Claudia Völlm, UCB: Warum Datenprojekte im Pharmabereich so selten einfach sind

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Die Nutzung von Daten in der pharmazeutischen Industrie gilt als Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit. Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell: Zwischen der Idee, datenbasiert zu arbeiten, und der Umsetzung liegen oft Welten. Im Gespräch mit Claudia Völlm, Head of Business Transformation Germany bei UCB in Deutschland, zeigt sich, woran das liegt – und warum es vor allem ein kulturelles, nicht nur ein technisches Thema ist.
Strukturen, Silos, Schnittstellen: Der steinige Weg zur Datenstrategie
Wer aus dem Omnichannel-Marketing auf Daten blickt, stellt schnell fest: Es gibt nicht zu wenig Daten, sondern zu viele. Allerdings sind sie oft historisch gewachsen, redundant, uneinheitlich strukturiert – oder schlicht nicht vergleichbar. „Viele Dashboards sind gefüllt mit Kennzahlen, deren Aussagekraft begrenzt ist, weil der Kontext fehlt“, so Völlm. Klickzahlen beispielsweise sagten ohne Zielbezug wenig aus. Erst wenn klar ist, welche Frage beantwortet werden soll, lassen sich Daten sinnvoll interpretieren.
Ein weiteres Problem: Unterschiedliche Fachbereiche bewerten dieselben Daten oft völlig verschieden. Was für das Marketing relevant erscheint, wird im Medical-Bereich als nachrangig eingeschätzt – oder umgekehrt. „Da kommt das Bild vom Elefanten ins Spiel“, sagt sie. „Jeder tastet einen anderen Teil ab und denkt, er kenne das Ganze. Aber niemand sieht die Gesamtstruktur.“
Also, was braucht es? Antwort: Eine übergreifende Datenstrategie, die verbindlich klärt, welche Informationen für welche Stakeholder relevant sind – und wie sie strukturiert, gepflegt und genutzt werden sollen. Doch genau hier beginnt die Komplexität: Die meisten Unternehmen arbeiten mit unterschiedlichen Tools, länderspezifischen Ausprägungen und verteilten Zuständigkeiten. Und die Frage, wer eigentlich die Verantwortung für die Datenhoheit übernimmt, bleibt oft unbeantwortet.
Warum Datenprojekte in Pharmaunternehmen oft scheitern
- Unterschiedliche Fachbereiche bewerten Daten verschieden
- Es fehlt an einer übergreifenden Strategie
- Systeme und Tools sind historisch gewachsen und oft inkompatibel
- Verantwortlichkeiten sind unklar verteilt
- Daten werden gesammelt, ohne Ziel oder Kontext
Lösung: Eine gut geplante Datenstrategie mit klarer Zieldefinition, Kontextbezug und interdisziplinärer Zusammenarbeit schafft die Grundlage für echte Nutzung im Marketing, Medical und Außendienst.
Zwischen Technik und Haltung: Datenarbeit ist Kulturarbeit
Die Entwicklung einer Datenstrategie ist keine technische Fleißarbeit, sondern eine Frage der Haltung, die über die Technik hinausausgeht. Denn bevor Systeme aufgesetzt, Schnittstellen programmiert und Dashboards entworfen werden, muss klar sein, welches Ziel man mit den Daten verfolgt. „Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wir müssen erzählen, wozu sie dient – im Alltag von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch in der Versorgung von Patientinnen und Patienten.“
Menschen bei Datenprojekten mitnehmen
Viele Dateninitiativen scheitern nicht am fehlenden Know-how, sondern daran, dass die Menschen, nicht mitgenommen werden. Daten müssen nicht nur erhoben, sondern auch verstanden werden. Sie müssen als relevant erlebt werden – und das nicht nur von den Personen mit dem Expertenwissen, sondern auch von jenen, die täglich damit arbeiten sollen. Es geht darum, Fragen zu stellen wie: Was sagt mir dieser Wert? Wofür kann ich ihn nutzen? Und woher stammt er eigentlich?
Hinzu kommt: Wer Daten nutzen will, muss bereit sein, auch Daten loszulassen. „Kill your darlings“ heißt es im Journalismus – im Datenkontext bedeutet das: Nur weil ein KPI schon immer erhoben wurde, heißt das nicht, dass er sinnvoll ist. Die Devise lautet: Entrümpeln gehört zur Strategiearbeit genauso wie Erheben.
Dass viele Pharmaunternehmen derzeit mit dem Aufbau solcher Strukturen kämpfen, ist keine Schwäche – sondern ein notwendiger Entwicklungsschritt. Gerade größere und international operierende Konzerne stehen vor der Herausforderung, gewachsene Systeme zu hinterfragen, neu zu denken – und womöglich parallel alte Strukturen abzubauen und neue aufzubauen. Und hier tut sich eine Besonderheit auf: Kleine, jüngere Firmen wie Biotech-Start-ups haben hier oft einen Vorteil, denn sie starten auf der grünen Wiese und können von Anfang an konsistente Datenmodelle etablieren.
Was muss eine gute Datenstrategie im Pharmamarketing leisten?
- Klare Fragen beantworten: „Was wollen wir wissen – und wofür?“
- Silos aufbrechen: Marketing, Medical und Vertrieb gemeinsam denken
- Mensch und System verbinden: Erfahrungswissen einbinden
- Qualität vor Quantität: Relevante KPIs identifizieren, irrelevante streichen
- Kollaboration ermöglichen – intern wie extern
Ziel: Es geht nicht um die Datensammlung um ihrer selbst willen, sondern bessere Versorgung, klügere Entscheidungen und effizientere Kommunikation.
Zwischen Mensch und System: Warum Erfahrung und Intuition ihren Platz behalten müssen
Neben aller Strategie darf jedoch eines nicht verloren gehen: die menschliche Dimension. Besonders im Außendienst zeigt sich, wie wertvoll Erfahrung ist – etwa in langjährigen Beziehungen zu Ärztinnen und Ärzten. Diese lassen sich nicht in Zahlen fassen, sind aber zentral für die Arbeit vor Ort. „Jede gute Datenstrategie muss anerkennen, dass Intuition und Erfahrungswissen einen eigenen Wert haben“, so Völlm.
Ziel müsse es sein, digitale Systeme so zu gestalten, dass sie den Außendienst unterstützen – nicht ersetzen. Idealerweise funktioniert das Zusammenspiel so gut, dass Informationen aus dem System individuelle Gespräche vorbereiten, während gleichzeitig Erfahrungswissen systematisch dokumentiert und nutzbar gemacht wird. Eine reibungslose Integration beider Welten gelingt aber nur, wenn die Mitarbeitenden geschult werden – inhaltlich, technisch und kulturell.
Völlm betont dabei, wie zentral Kollaboration ist – nicht nur zwischen Fachbereichen, sondern auch zwischen Pharmaunternehmen. „Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir komplexe Probleme lösen wollen.“ Diese Haltung gelte auch über die Unternehmensgrenzen hinaus: Austausch, Vergleichbarkeit und gemeinsame Projekte sind wichtige Eckpfeiler des Erfolgs und ihre Förderung erweisen sich heute als einzig gangbarer Weg, um mit der wachsenden Komplexität umzugehen.
Und noch etwas wird deutlich: Wer Datenprojekte erfolgreich gestalten will, braucht nicht nur Systemkompetenz, sondern auch neue Persönlichkeitsmerkmale – etwa Ambiguitätstoleranz, Selbstorganisation und Mut zum Scheitern. „Ich bin von Natur aus perfektionistisch“, sagt Völlm. „Aber in diesem Umfeld muss man lernen, Dinge auszuprobieren – auch wenn man scheitert. Sonst geht nichts voran.“
Der Aufbau datenbasierter Strukturen in der Pharmaindustrie erfordert mehr als technisches Know-how. Gefragt sind Klarheit über Ziele, der Wille zur Zusammenarbeit und der Mut, bestehende Routinen zu hinterfragen. Wer Daten wirklich nutzen will, muss ihre Bedeutung erklären, ihre Relevanz vermitteln und Menschen aktiv einbinden. Nur so gelingt der Wandel von der Datensammlung zur dateninformierten Organisation – nachhaltig, wirkungsvoll und zukunftsfähig.