Digitale Gesundheitsanwendungen: Neue Spielräume für Pharma?
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Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind in Deutschland seit einigen Jahren Teil der Regelversorgung. Dennoch tun sich viele Start-ups mit der Finanzierung schwer, und auch die Integration in die Versorgung bleibt eine Herausforderung. Für die Pharmaindustrie eröffnet sich hier ein Feld, das sowohl Chancen als auch Unsicherheiten birgt.
„Für Start-ups ist es nach wie vor schwierig, sich am Markt zu behaupten. Viele haben nicht die Ressourcen, um langfristig durchzuhalten. Zusätzlich hat es oft an Erfahrung gemangelt, wie Die Etablierung eines Produkts auf dem Gesundheitsmarkt funktioniert, weil einige Start-Ups aus andere Bereichen kamen“, sagt Luisa Wasilewski, Digital Health Expertin und Gründerin von dem Beratungsunternehmen Pulsewave. Sie berät Unternehmen zu Strategien rund um digitale Gesundheitsanwendungen. Für sie steht fest: Der Weg über das DiGA-Verzeichnis ist kein Selbstläufer. Wer bestehen will, braucht nicht nur eine gute Idee, sondern auch die Fähigkeit, regulatorische Hürden zu meistern und Ärztinnen und Ärzte von der Anwendung zu überzeugen.
Gerade bei der Einbindung in den Versorgungsalltag gibt es noch große Lücken. Viele Ärztinnen und Ärzte sind nach wie vor zurückhaltend. Hier lassen sich klare Informationsdefizite ausmachen. Das allerdings könnte eine Chance für die Pharmaindustrie öffnen, an dieser Stelle eine wichtige Rolle zu übernehmen, denn sie verfügt über langjährige Erfahrung darin, komplexe Therapien zu erklären und medizinisches Personal systematisch zu informieren.
Pharmaunternehmen als Partner im DiGA-Markt
Während Start-ups häufig an begrenztem Kapital und fehlender Marktdurchdringung scheitern, bringt Pharma andere Voraussetzungen mit. „Die Industrie kann den langen Atem haben, der nötig ist, um digitale Produkte dauerhaft in die Versorgung zu bringen“, so Wasilewski. Pharmaunternehmen könnten digitale Anwendungen als Erweiterung bestehender Therapien verstehen, zum Beispiel als „digitale Therapiebegleiter“, die Medikamente ergänzen, die Adhärenz stärken oder neue Datenströme für Forschung und Versorgung nutzbar machen.
Studie: Markteffekte der DiGA-Regulierung
Eine neue Studie des ZEW Mannheim untersucht anhand von App-Store-Daten erstmals, wie sich die Einführung des Erstattungsmodells für „Apps auf Rezept“ (DiGA) auf den Gesamtmarkt für digitale Gesundheitsanwendungen in Deutschland ausgewirkt hat. Hier sind die wichtigsten Erkenntnisse:
Markteintritt und App-Wachstum:
Nach dem DiGA-Start stieg die Zahl deutschsprachiger digitaler Therapie-Apps deutlich, und zwar innerhalb eines Jahres um rund 1000 Anwendungen gegenüber anderen Sprachen, nach zwei Jahren sogar um 1700.
Die größten Anreize für Entwickler: großer GKV-Markt (>74 Mio. Versicherte), schnelle Marktzulassung (Vorerstlistung mit späterem Evidenznachweis), hohe Einstiegspreise (durchschnittlich 400€ je Verschreibung).
Qualität und Datenschutz unter Druck:
Die neuen Apps zielten kaum auf mehr Diagnosen, sondern konzentrierten sich auf existierende Themenfelder.
Der Zuwachs betraf vor allem Apps mit datenbasiertem Werbemodell. Der Anteil hochwertiger, evidenzbasierter Anwendungen mit starkem Datenschutz stieg dagegen nicht signifikant.
Zentrale Take-Home-Points für Entscheider und Ärzte:
Die DiGA-Regulierung hat den App-Markt für digitale Therapien in Deutschland dynamisiert, wobei Quantität schneller wuchs als Qualität.
Nachhaltige Wirkung auf Versorgungsqualität und Datenschutz offen, weiterer Forschungsbedarf besteht.
Studie: Janßen/Reif/Schubert, ZEW Mannheim, 2025 (DP 25-034)
Ein Knackpunkt bleibt jedoch die Wirtschaftlichkeit. Die bisherigen Umsätze im DiGA-Markt sind für große Konzerne oft nicht attraktiv genug. Für internationale Player spielen Skalierungseffekte eine entscheidende Rolle. Kurzfristig wird der deutsche Markt daher eher als Nische betrachtet. Wasilewski sieht daher eher mittelständische Pharmafirmen als logische Nutznießer.
Deutschland als Testlabor
Langfristig könnte sich das Bild jedoch ändern. Denn Deutschland gilt durch seine strengen Zulassungskriterien und hohen Anforderungen an Evidenz als besonders restriktiver Markt. Man kann es auch so sehen: Wer es hier schafft, eine DiGA erfolgreich zu platzieren, schafft ein starkes Referenzmodell. Daraus wiederum ergibt sich eine strategische Perspektive, in der Deutschland als „Testlabor“ dienen könnte, um Geschäftsmodelle zu erproben, die sich später international skalieren lassen.
Die finanziellen Herausforderungen, mit denen Start-ups kämpfen, werden so auch zu einem Experimentierfeld für neue Kooperationsformen. Pharmafirmen könnten an Modellen mitwirken, in denen digitale Begleiter nicht allein, sondern in Kombination mit klassischen Therapien vermarktet werden. Damit entstünden hybride Geschäftsmodelle, die erst in größerem Maßstab lukrativ werden.
Kritik und Lernkurven
Einfach war der Weg für die DiGA bislang nicht. Studien weisen auf methodische Schwächen vieler Zulassungsstudien hin, was zu anhaltender Kritik geführt hat. Eine Untersuchung des ZEW Mannheim (2025) bestätigt: Die Evidenzbasis ist oft begrenzt, Nachweise zu Wirksamkeit und Versorgungseffizienz sind nicht immer robust. Für viele Ärztinnen und Ärzte bleibt die Skepsis deshalb groß.
„Natürlich gibt es Kritikpunkte“, sagt Wasilewski. „Aber man darf nicht vergessen, dass wir uns hier in einem Lernprozess befinden. Digitale Gesundheitsanwendungen sind ein junges Feld. Studienkonzepte müssen sich weiterentwickeln, genauso wie die regulatorischen Anforderungen.“ Aus ihrer Sicht zeigt die Debatte vor allem, dass das Modell ernst genommen wird und dass Qualität künftig noch stärker im Fokus stehen wird. Betrachtet man, wie Innovationen üblicherweise Einzug in das Gesundheitswesen halten – nämlich immer langsamer, als das vielen lieb ist – ist das ein wichtiger Punkt, der folgerichtig auch für die Implementierung von DiGA auf dem deutschen Gesundheitsmarkt gilt.
Marketing als Systemfrage
Dennoch stellt sich die Frage, wer eigentlich für die Bekanntmachung und Akzeptanz der DiGA verantwortlich ist. Die Politik hat zwar den regulatorischen Rahmen geschaffen, aber die breite Kommunikation blieb bisher oft aus. Diese Lücke könnte von der Pharmabranche sinnvoll gefüllt werden. Die Unternehmen haben die nötige Erfahrung und Strukturen, die sich als entscheidend herausstellen könnten. „Gerade wenn es darum geht, Ärztinnen und Ärzte systematisch zu informieren, hat die Industrie einen Vorsprung“, betont Wasilewski.
Ob DiGA künftig eine Ergänzung im Therapiespektrum bleiben oder sich zu einem eigenständigen Markt entwickeln, hängt auch davon ab, wie sich Geschäftsmodelle professionalisieren. Und womöglich, ob und wie sich die Pharmaindustrie entscheidet, stärker einzusteigen. Klar ist: Das Thema wird das Pharmamarketing beeinflussen. Digitale Produkte lassen sich nicht wie Medikamente vermarkten, sie erfordern neue Konzepte, andere Kommunikationswege und vor allem eine enge Verknüpfung von Evidenz, Nutzenargumentation und Patientenzentrierung.