„Wer an die User Experience denkt, vermeidet Fehlentscheidungen“

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Katharina Engl, User Experience-Designerin © privat
Katharina Engl, User Experience-Designerin, beschreibt im Interview mit Health Relations, warum die Bedürfnisse und Wünsche des Nutzers/der Nutzerin bei der Entwicklung von Digitalprodukten unbedingt im Mittelpunkt stehen sollten und weshalb Unternehmen davon profitieren, mit Minimum Viable Products in den Markt zu gehen.

Health Relations: In nahezu allen Teilen des Healthcare-Marktes hat die Digitalisierung Einzug erhalten. DiGA, Telemedizin, elektronische Patientenakte und digitaler Impfnachweis, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Bei der Gestaltung digitaler Produkte geht es immer auch um die „User Experience“ (UX) und „Usability“. Warum sind beide Aspekte wichtig, um ein digitales Produkt erfolgreich zu machen?
Katharina Engl: Der Begriff Usability beschreibt vor allem die Nutzerfreundlichkeit, die Einfachheit und die Praktikabilität einer Anwendung. Die User Experience geht über die Grenzen der Usability hinaus. Der Begriff beschreibt das subjektive Erlebnis, das durch die Nutzung einer Applikation ausgelöst wird. Sie entscheidet darüber, ob Websites, Apps und Software gerne genutzt werden oder nicht. Die Berücksichtigung von Usability und User Experience in der Entwicklung eines Produkts spart Geld und verkürzt die „time-to-market“. Denn wenn die Bedürfnisse und Wünsche des Nutzers/der Nutzerin von Anfang an im Zentrum stehen, können grundlegenden Fehlentscheidungen zu Beginn einer Entwicklung vermieden werden. Vor allem spätere Änderungen an der Informationsarchitektur oder dem Funktionsumfang beeinflussen die Gesamtkosten und die Laufzeit eines Projekts maßgeblich.

„Der Mehrwert, der durch die digitale Anwendung entsteht, muss in einem sinnvollen Einklang mit den Entwicklungskosten stehen.“

Health Relations: Als Anbieter eines digitalen Produkts sollte man sich im Vorfeld mit der Frage auseinandersetzen, welches Feature der Nutzer/die Nutzerin wirklich braucht.
Katharina Engl: Richtig, das ist auch ein Teil der Usability. Ebenso, wie eine technisch-einwandfreie Umsetzung vorausgesetzt wird. Die Qualität der User Experience beeinflusst unmittelbar die Produkterfahrung. Je positiver, desto präsenter bleibt sie in Erinnerung – und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzer:innen diese Erfahrung wiederholen möchten.

Health Relations: Wie gehen Sie vor, wenn Sie die User Experience einer Website verbessern wollen? 
Katharina Engl: Es kommt immer darauf an, auf welchem „Wissensschatz“ man aufbauen kann. Handelt es sich um eine Website mit täglich mehreren hundert Besuchern, kann man viel aus der Analyse der Besucherdaten erfahren. In solch einem Fall lohnt es sich, eigene Landingpages pro Zielgruppe zu kreieren, welche die jeweiligen Bedürfnisse klar adressieren. Im nächsten Schritt können die Landingpages in einem A/B-Testing für eine kontinuierliche Verbesserung ausgewertet und weiterentwickelt werden. Handelt es sich um eine kürzlich gelaunchte App mit einer kleinen User-Base, ziehe ich es vor, qualitative Nutzerinterviews durchzuführen. Nach einer intensiven Recherche- und Konzeptphase können im nächsten Schritt konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der User Experience herausgearbeitet werden, wie z.B. die Verbesserung des Bedienkonzepts und Design Workflows, eine Vereinfachung der Informationsarchitektur und der Aufbau eines holistischen Designsystems.

Health Relations: Aus dem Nutzerfeedback leiten Sie also Weiterentwicklungsmöglichkeiten für das digitale Produkt ab. Wie agil erleben Sie die Healthcare-Branche hier?
Katharina Engl: Der Markt für die Entwicklung von digitalen Services und Apps im Gesundheitswesen boomt. Je stärker ein Unternehmen dem Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist, desto mehr steigt die Nachfrage nach wirklich gutem UX-Design. Für den langfristigen Erfolg darf nicht nur die Steigerung des Patientenwohls im Fokus stehen, sondern es sollten auch Interessengruppen wie Ärzt:innen, Krankenschwestern und Pfleger sowie weiteres medizinisches Personal miteinbezogen werden. Der Mehrwert, der durch die digitale Anwendung entsteht, muss in einem sinnvollen Einklang mit den Entwicklungskosten stehen. Die Reduktion auf das Wesentliche ist bei einem Minimum Viable Produkt (MVP) im medizinischen Kontext das Entscheidende. Agiles Arbeiten in überschaubaren Aufgabenpaketen. Ganz nebenbei wird dadurch eine intuitive Nutzerführung sichergestellt. Nicht zuletzt: gehört dazu, das Erreichte häufig zu bewerten: Zeigt das Projekt die erhofften Effekte? Ist der gewählte Ansatz vielversprechend?

Minimum Viable Produkt (MVP)
Als Minimum Viable Produkt (MVP), übersetzt, minimal funktionsfähiges Produkt, bezeichnet man Produktlösungen, die nicht umfassend entwickelt und getestet wurden, bevor sie auf den Markt kommen, sondern die möglichst früh auf den Markt gebracht und durch das Nutzerfeedback agil und zielgerichtet weiterentwickelt werden. So sollen das Risiko hoher Entwicklungskosten minimiert und das Produkt von Anfang an auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst werden.

Health Relations: Bei der Entwicklung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) zeigt sich einmal mehr, dass Healthcare-Unternehmen nicht nur auf die UX schauen dürfen, sondern auch Datenschutzvorschriften und andere gesetzliche Vorgaben beachten müssen. Wie gelingt dieser Spagat?
Katharina Engl: Die klassische „User Journey“ wird im medizinischen Kontext zur „Patient Journey“, die ihre ganz eigenen Anforderungen an Apps oder Websites stellt. Inklusives Design ist hier das Schlagwort, welches sich durch Nutzerorientierung, Gebrauchsfreundlichkeit, Anpassbarkeit und durch eine hohe ästhetische Qualität auszeichnet. Des Weiteren gilt es, besonderen Augenmerk auf ein vertrauenswürdiges Erscheinungsbild zu legen. Zu einem digitalen Angebot, das eine breite Akzeptanz bei Leistungserbringern sowie Patient:innen erfahren möchte, gehören adäquate und transparente Maßnahmen sowie Informationen zur Gewährleistung der Daten- und Informationssicherheit. Denn erst, wenn Anwender:innen vertrauen, werden sie auch zu langfristigen Kund:innen.

„Inklusives Design zeichnet sich durch Nutzerorientierung, Gebrauchsfreundlichkeit, Anpassbarkeit und eine hohe ästhetische Qualität aus.“

Health Relations: Unternehmen haben häufig verschiedene digitale Plattformen: Unternehmenswebsite, Patientenportale, Informationsportale für Ärzte, Podcasts, DiGA – welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die User Experience?
Katharina Engl: Eine Omni-Channel-Strategie kann strategisch genutzt werden, wenn sie konsequent durchdacht ist. Herausfordernd ist hierbei, Wiedererkennbarkeit über alle Kanäle trotz zielgruppenspezifischer Ansprache zu erreichen. Hierzu müssen eine Reihe von Fragen  beantwortet werden, zum Beispiel: Wie hoch ist die zu erwartende digitale Bildung der AnwenderInnen und über welche Kanäle sind sie erreichbar? Welches digitale Produkt (Website, App, Android, iOS, Fitness-Gadgets etc.) eignet sich für welche Zielgruppe? Welche Assistenz-Software muss eingebunden werden? Muss die App/Website mit Google Assistant oder Siri aktiviert werden? Brauche Menschen mit kognitiven oder körperlichen Einschränkungen besondere Unterstützung wie z.B. Vereinfachte Sprache, Zoom oder Screenreader? Sind persönliche Interaktionen mit echten Menschen über die Kamera vorteilhaft?

Health Relations: Um Antworten auf solche Fragen zu erhalten, suchen sich viele Healthcare-Unternehmen einen Agenturpartner. Worauf sollten Unternehmen achten, wenn sie eine UX-Agentur auswählen?
Katharina Engl: Digitale Produkte zu entwickeln, ist häufig ein langer und ressourcenintensiver Prozess. Immer handelt es sich um einen iterativen Entwicklungsprozess, der am besten in einem agilen Arbeitsumfeld gedeiht. Dass alle beteiligten Gewerke, Konzept, Design, Softwareentwicklung, Marketing, etc., erfolgreich zusammenarbeiten können, am besten in Sprint-Einheiten, sollte vom Auftraggeber sichergestellt werden. Je nach Stand der Projektphase, vor dem Launch, während der Entwicklung, nach dem Launch, wird unterschiedlicher UX-Support gefragt. Deshalb sollten Auftraggeber darauf achten, den richtigen Spezialisten für die jeweilige Dienstleistung zu finden. Das können Unterstützung bei der Marktvalidierung durch die Erstellung und Durchführung von Umfragen und Interviews sein oder Markt- und Wettbewerbsanalyse bestehender digitaler Angebote. Andere Themen sind z.B. die Zielgruppen-Analyse, um Anforderungen zu verstehen, UX-Konzeption, Responsive Webdesign und Usability Testing.

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