Digitale Transformation bedeutet mehr als nur Technologie. Sie betrifft uns als Gesellschaft – und eröffnet zentrale Handlungsfelder im Gesundheitswesen.
Die Digitale Transformation bedeutet weitaus mehr als nur Technologie. Sie betrifft uns in unseren Rollen und uns als Gesellschaft – und sie eröffnet zentrale Handlungsfelder im Gesundheitswesen.
Die Digitale Transformation – ganz allgemein und speziell im Gesundheitswesen – ist für alle spürbar und populäres Buzzword zugleich. Während viele Apps und Wearables vor Augen haben, die uns die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit regelrecht zu einem Kontinuum gemacht haben, analysierte Prof. Dr. Andréa Belliger-Krieger in ihrem ceres-Vortrag vor allem den Kulturwandel, der uns durch Connected Health und EPatients bevorsteht.
Vernetzung: Am Anfang schuf das Internet die Konnektivität
Konnektivität ist eine der größten Errungenschaften des Internets. Sie ermöglicht uns den Zugang zu Familie und zu alten und neuen Freunden auf der ganzen Welt, zu Wissen und Know-how, aber auch den direkten Austausch mit Unbekannten, die aber die gleichen Interessen teilen – sogar mit Prominenten. Grenzen, die es zuvor gab, sind gefallen. Stattdessen eröffnen uns Plattformen, Sharing Economy und Netzwerke neue Welten.
Systeme vs. Netzwerke: Es wird besser!
ceres-Referentin Prof. Dr. Andréa Belliger vom Institut für Kommunikation & Führung Luzern wünscht sich eine lebhafte Diskussion über den tiefgreifenden Kulturwandel, den die Digitale Transformation angestoßen hat.
Die neuen Netzwerke von heute können den alten Systeme von gestern, "von der Zeit vor dem Internet", gegenübergestellt werden.
In geschlossenen, statischen Systemen waren positionsgebundene Hierarchien maßgeblich. Positionen, Aufgaben, Wissen und selbst Werte und Normen wurden top down vergeben. Am unteren Ende kam nicht selten schlecht gefiltertes Wissen an. Dieses zu hinterfragen kam wiederum auch nicht unbedingt so gut an. Eat or die. Aber was heißt hier eigentlich „wurden“ – solche Strukturen, Normen und Verhaltensmuster kennen wir heute noch aus der Arbeitswelt und aus der Arzt-Patienten-Beziehung. Doch wie lange noch?Konnektive Umfelder haben die finstere Bubble bereits aufgehellt und bieten Interessierten mit Netzwerken und Plattformen attraktive und effektivere Alternativen. In den Netzwerken wird Wissen transparent geteilt; durch gezielten Austausch gelangen User zu neuen Erkenntnissen und Lösungen. Die Netzwerke, ihre Hierarchien und ihre Themen befinden sich im dauernden Wandel.Starre „mein Tanzbereich, dein Tanzbereich“-Interaktion würde hier nicht überleben. Die Netzwerke sind komplex, heterogen und offen. Teilen ist die Basis für Zusammenarbeit.
Rollen und Funktionen werden auch in Netzwerken vergeben, aber es geschieht bottom up und kompetenzbasiert – jedes Mal von Neuem. Auch die Erwartungshaltung an jeden Einzelnen hat sich angeglichen: Gewürdigt werden eine offene Kommunikation, Plausibilität, Partizipation, Transparenz, Authentizität, Empathie – ganz unabhängig von Rang und Status. Während Prominente durch eigene Social-Media-Kanäle die Möglichkeit nutzen, sich authentisch zu zeigen und Nähe zu ihren Fans schaffen, schaffen es auch Normalsterbliche mit besonderen Talenten auf die Bühne großer Netzwerke. Follower sind eine wertvolle Währung, die hart verdient wird, aber heute für jeden zugänglich geworden ist. Andersherum ist auch niemand vor einem Shitstorm gefeit:
Connected Seniors strike back: Mit Foodporn-Posts aus dem Altersheim kassierte der "Insasse" einen Rausschmiss und das Heim einen Shitstorm
E wie empowered, engaged, enabled und educated: Der EPatient im konnektiven Zeitalter
Was bedeutet das für den Gesundheitsbereich? Wir kennen den EPatient. Aber wer glaubt, das „E“ des EPatient leite sich aus „elektronisch“ ab, irrt. Bei EPatients handelt es sich um eine revolutionäre Bewegung von Patienten. Wurde ihnen zuvor eine Therapie schlicht verordnet, haben ihre Netzwerke sie zu EPatients auf Augenhöhe mit behandelnden Ärzte gebracht.
Belliger-Krieger veranschaulicht die neuen Verhältnisse so: Eine Mutter, die sich über die Hintergründe und Therapiemöglichkeiten für die seltene Erkrankung ihres Kindes informiert, weiß vermutlich mehr über die Erkrankung als der behandelnde Hausarzt. Gleichzeitig weist ein Facharzt, der jeden Abend einen Fachartikel liest, einen Wissensrückstand von 400 Jahren auf.
Im Paradigmenwechsel von Systemen zu Netzwerken: Wie kann das Gesundheitswesen mithalten?
Ist der Patient besserwisserisch, aufmüpfig und nicht gefügig? Ein Arzt, der die Nachfragen seiner Patienten abwatscht, ausschließlich seine Sicht auf die Erkrankung zulässt und sich dabei lediglich auf seine Position in der Hierarchie im Arzt-Patienten-Verhältnis berufen kann, wird sich im Zuge der EPatient-Bewegungen immer unglaubwürdiger machen. Ärzten und Gesundheitsorganisationen, die ihren Patienten nicht zuhören und sich einem transparenten Dialog auf Augenhöhe verweigern, werden die Patienten entgleiten.
Why I open-sourced cures to my cancer: Salvatore Iaconesi hackte seine Patientenakte, stellte sie online und holte sich über 500.000 Zweitmeinungen zu seiner Krebserkrankung ein. @ ted.com/James Duncan Davidson
So geschehen auch bei Salvatore Iaconesi, der nach der Diagnose seiner Krebserkrankung und dem vorgeschlagenen operativen Eingriff in sein Gehirn das dringliche Bedürfnis verspürte, Einsicht in seine Gehirnscans und Daten zu erlangen. Sie wurden ihm lange verweigert. Als er sie erhielt, fand er nur heraus, dass die Daten für die ausschließliche Einsicht für Ärzte verschlüsselt waren. Als IT-Mensch entschied er sich, die Daten zu hacken – und sie online zu stellen und die Crowd zu sourcen. Iaconesi erhielt über 500.000 Zweitmeinungen, die ihm schließlich dabei halfen, Vertrauen in die für ihn richtige Therapie zu finden.
Aber es gibt auch interessante Cases, die Fortschritte im Healthcare-System dokumentieren:
Customer Centricity par excellence bei der Mayo Clinic
Was zunächst unaufgeregt aussieht, birgt Revolutionäres: Patienten der Mayo Clinic erhalten Einsicht in ihre Daten und in ihre Testergebnisse, sobald sie auch dem Arzt vorliegen. On top können sie ihre Termine online planen und ihre Rezepte online bestellen. Und das alles auch per App auf dem Smartphone. Der zugehörige Claim "Simplify your health" wird damit bestmöglich eingelöst. Die Bereitstellung von Schnittstellen ist ein essenzieller Meilenstein für die soziotechnologische EPatient-Bewegung.
Was hab ich? Medizinstudenten übersetzen Arztbriefe auf deutsch
Manchmal ist auch die Arztsprache Verschlüsselung genug, dass Patienten ihre eigene Krankheit nicht verstehen können. Auf was-hab-ich.de nehmen sich junge Mediziner dem Problem an und übersetzen Befunde von Arzt auf Deutsch. Dass die Arzt-Patienten-Kommunikation vielfach suboptimal verläuft, belegt die aktuelle Warteliste von über 34.000 Befunden.
Der Patient als wichtigste Ressource: abbvie hört zu
Den Patienten als wichtigste Ressource wahrzunehmen, ihn ernstzunehmen und zuzuhören, ist das Ziel des Co-Create Healthcare Forums von abbvie. abbvie fordert im Forum betroffene Patienten dazu auf, ihre Bedürfnisse kundzutun, woraus das Unternehmen Ideen für seine Forschung und Entwicklung neuer Therapieansätze ziehen kann.
Die Beispiele zeigen, dass eine transparente Kommunikation auf Augenhöhe aufwändig ist. Sie erfordert ein Umdenken in den Köpfen, einen Paradigmenwechsel in den bisherigen Beziehungen und viele Investitionen. Aber sie zeigen auch, dass sich der Aufwand für alle Beteiligten lohnen kann.