Darum wird Gendermedizin wichtig für das Pharmamarketing

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Gendermedizin wird zum neuen Trendthema in der Medizin, aber auch in der Pharmawelt. Was steckt dahinter und warum sollte sich auch das Pharmamarketing damit beschäftigen? Das lesen sie hier.

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Manchmal ist die Gleichbehandlung ein Problem, denn Männer und Frauen werden unterschiedlich krank und brauchen – obwohl sie an derselben Krankheit leiden – eine andere Behandlung. Hintergrund ist, dass Frauen nicht selten andere Symptome aufweisen und Arzneimittel anders bei ihnen wirken. Grund dafür sind die Geschlechtschromosomen, die das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel, die Verdauung, das Immunsystem und sogar die Körperzusammensetzung beeinflussen. Diese Faktoren wiederum bestimmen, wie lange ein Körper braucht, um gewisse Wirkstoffmengen eines Medikaments abzusetzen. Viele Jahre hat die Medizin das ignoriert und auch die Forschung hat sich auf den männlichen Prototypen eines Kranken konzentriert. Doch das ändert sich gerade.

Gendermedizin – mehr als ein Trend

In den USA ist die sogenannte Gendermedizin, geschlechtsspezifische Medizin oder geschlechtersensible Medizin schon länger auf dem Vormarsch. In Deutschland nimmt das Thema auch immer mehr Fahrt auf. So wurde vonseiten der Ärzt:innen inzwischen die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. gegründet, in der Mediziner:innen aus allen Fachbereichen sich untereinander austauschen sollen.

Die Studierenden im Hartmannbund haben sich im letzten Jahr öffentlich dafür ausgesprochen, Gendermedizin als verpflichtendes Querschnittsfach im Medizinstudium einzuführen.  Mitte des Jahres sprach sich die Ärztekammer Westfalen-Lippe dafür aus, die geschlechterspezifische Gesundheitsversorgung zu verbessern, nicht zuletzt, weil diese ein Paradebeispiel für die individualisierte Medizin darstellt.

Wissen über Gendermedizin verbreiten – so macht es Novartis

Das Thema scheint auch bei den Pharmaunternehmen angekommen zu sein.  So will sich Novartis künftig intensiver mit dem Thema befassen und das Bewusstsein dafür schärfen. Dazu werden Veranstaltungen organisiert, Gespräche geführt oder Informationsmaterial wie die Broschüre „Gendermedizin, ist da etwas dran?“ gedruckt. Damit informiert Novartis zu Krankheitsbildern, bei denen geschlechterspezifische Unterschiede gravierend sind. Außerdem setzt man sich dafür ein, dass bei klinischen Studien die indikationsspezifischen Ein- und Ausschlusskriterien beachtet werden. In Zukunft ginge es dann nicht unbedingt darum, eine ausgewogene geschlechterspezifische Aufteilung anzustreben, sondern die Häufigkeit des Auftretens einer Indikation bei den Geschlechtern als entscheidendes Kriterium heranzuziehen.

Bereits 2018 hat Novartis den Salon „Gender & Gesundheit“ gestartet, um dieses Thema im Dialog mit Expert:innen und Entscheidungsträger:innen aus Politik und Verwaltung zu beleuchten sowie Lösungsansätze zu erarbeiten, um die Patientenversorgung zu verbessern. Auch in der Ansprache von Fachkreisen und bei Fortbildungsveranstaltungen gewinnt das Thema Gendermedizin für bestimmte Krankheitsbilder an Bedeutung, um auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei Diagnostik und Therapie aufmerksam zu machen. So wurde in der Vergangenheit eine Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Sex und Gender. Was beeinflusst die Schmerzverarbeitung?“ mit Frau Professor Pogatzi-Zahn von der Universität Münster, einer Spezialistin auf diesem Gebiet, angeboten. Ein weiteres Beispiel ist eine Fortbildungsveranstaltung, die u.a. das Thema Multiple Sklerose und der Einfluss von Hormonen bei bestimmten Krankheitsbildern aufgreift.

Was ist Gendermarketing?
Der Begrifft Gendermarketing beschreibt Marketing-Prinzipien und -Strategien, die auf die Tatsache abzielen, dass männliche und weibliche Kunden unterschiedliche Bedürfnisse von einem Produkt haben können. Die Annahme, die dem zugrunde liegt: Frauen und Männer kaufen und konsumieren unterschiedlich, weil sich ihre Lebenswelten und -erfahrungen unterscheiden.

Spannend wird die Frage, wie sich die Gendermedizin auf das Marketing der Pharmafirmen auswirken wird. Ein erster Schritt ist sicher, eine Art spezielles Gendermarketing für Pharmaprodukte zu entwickeln. In der Folge muss die Patientenansprache stärker angepasst werden.  Hat sich beispielsweise ein Produkt als besonders gut wirkend für Patientinnen herausgestellt, ist das eine Information, mit der sich Pharmafirmen einen Vorteil gegenüber einem Konkurrenzprodukt, bei dem diese Wirkung nicht bekannt ist, verschaffen könnten. Letztlich ist diese Art des Marketings nur ein erster Schritt hin zu einer individualisierten Medizin, in deren Folge sich auch die Marketingstrategien, -kampagnen und -kanäle immer stärker segmentieren werden.

Das sagt der vfa dazu
Dr. Rolf Hömke ist Forschungssprecher des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Er findet, Gendermedizin ist bei deutschen Pharmaunternehmen als Thema angekommen.

Health Relations: Warum betrifft Gendermedizin auch die Pharmaindustrie?

Dr. Rolf Hömke ist Forschungssprecher des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) © vfa

Dr. Rolf Hömke: Schon seit 1993 ist es in den USA Pflicht, und seit 2001 in der EU, dass Medikamente mit beiden Geschlechtern erprobt werden müssen, wenn sie auch für beide Geschlechter zugelassen werden sollen. Ausnahmen werden nur bei Krankheiten akzeptiert, die fast nur bei einem Geschlecht auftreten – wie etwa Hämophilie A. Die Pharmaunternehmen arbeiten seither auch so. Seit 2011 kann man sich die Ergebnisse der geschlechts- getrennten Auswertung für jedes Medikament, das eine deutsche Nutzenbewertung durchlaufen hat, unter www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung ansehen. Daraus ist zu ersehen, dass fast jedes der dort dokumentierten Medikamente, das eine Zulassung für beide Geschlechter hat, bei beiden auch in gleicher Weise eingesetzt werden kann. Nur bei wenigen Medikamenten wurde festgestellt, dass sie bei Männern und Frauen unterschiedlich dosiert werden müssen. Unternehmen sind außerdem aktiv für die spezifischen Therapiebedürfnisse von Frauen und Männern.

Health Relations: Können Sie Beispiele nennen?

Dr. Rolf Hömke: Ja, sie entwickeln beispielsweise Medikamente gegen Mammakarzinom, Ovarialkarzinom, Endometriose einerseits und Prostatakrebs und Hämophilie A oder B andererseits. Ein Mammakarzinom gehört sogar zu den Krankheiten, auf die besonders viele Pipelineprojekte der Pharmaunternehmen entfallen.

Health Relations: Wie könnte sich das Marketing in Bezug auf die Ärztekommunikation verändern?

Dr. Rolf Hömke: In der Bevölkerung, aber zum Teil auch in Fachkreisen, persistiert die Vorstellung, dass Medikamente kaum mit Frauen erprobt werden. Hier könnte Aufklärungsarbeit bei Ärzt:innen einen wichtigen Beitrag leisten, das geradezurücken.

Health Relations: Was würden Sie sagen, ist die Gendermedizin auch in Deutschland in der Pharmaindustrie angekommen?

Dr. Rolf Hömke: Natürlich. Das zeigen drei Beispiele. Erstens: Wenn Pharmaunternehmen deutsche medizinische Einrichtungen in ihre klinischen Prüfungen der Phase II oder III einbeziehen, geben sie ihnen vor, dass sie Männer und Frauen rekrutieren sollen, und wie viele jeweils. Davon dürfen die Einrichtungen im Ergebnis auch nur leicht abweichen. Das zweite Beispiel: Geschlechtergetrennte Auswertungen der Studienbasis neuer Medikamente steuern die Unternehmen zur Nutzenbewertung bei, und machen sie damit auch öffentlich, weil der Gemeinsamen Bundesausschusses ja alle Dossiers publiziert. Und drittens hat der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa)  gerade die Gendermedizin zum aktuellen Schwerpunktthema seines vfa-Patientenportals gemacht. Dieses Portal geht das Thema mit Expert:innen-Statements, einem Namensbeitrag sowie einer online übertragenen Podiumsdiskussion vom 29. November 2022 an. Auch Pharma-Unternehmen haben in den letzten Jahren Diskussionsveranstaltungen zur Gendermedizin organisiert.

Fazit

Immer mehr Pharmafirmen springen auf das Thema an. Langfristig ist auch damit zu rechnen, dass sich das auf das Marketing auswirken wird. Ähnlich wie die personalisierte Medizin auch wird es ein flexibles Marketing erfordern, das unterschiedliche Kanäle bedient. Wie es sich inhaltlich entwickeln wird, wird die Zeit zeigen. Sicher ist auch, dass sich Pharmafirmen damit hervortun können, die Öffentlichkeit und Ärzt:innen für die Gendermedizin zu sensibilisieren und sich letztlich für eine bessere Gesundheitsversorgung aller einzusetzen – und das dürfte eben auch zu einer positiven Außenwirkung beitragen.

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