Trotz bahnbrechender Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung bleibt der Zugang zu neuen Medikamenten in Deutschland oft ein Wettlauf mit der Zeit. Dr. Traugott Gruppe, Medical Director Germany bei Boehringer Ingelheim, sieht dringenden Handlungsbedarf – und benennt klare Stellschrauben.

Die Herausforderung: Ob Schizophrenie, Lungenfibrose oder seltene Tumorarten – in vielen Therapiegebieten entstehen derzeit hochwirksame Medikamente und Therapien, hieß es auf der Boehringer Ingelheim Pressekonferenz Anfang April. 2024 investierte das Unternehmen nach eigenen Angaben 5,7 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung im Bereich Human Pharma. Die Pipeline umfasst 84 aktive Projekte, davon viele in Phase 3, 30 Markteinführungen sind bis 2030. Doch ihre klinische Wirksamkeit bedeutet nicht automatisch Versorgungserfolg, weil der Marktzugang für Innovationen in Deutschland komplex und langsam ist. „Wir müssen diese Produkte an die Hände der Ärzte und Ärztinnen bringen,“ lautete denn auch eine der zentralen Botschaften. Doch im ersten Schritt brauche es mehr Tempo, um Innovationen überhaupt erst in die Versorgung bringen zu können.

Welche Faktoren verzögern den Zugang zu neuen Medikamenten?

Dr. Traugott Gruppe, Medical Director Germany bei Boehringer Ingelheim, benennt im Interview die aus seiner Sicht zentralen Ursachen:

„Um zu erreichen, dass medizinische Innovationen bei Ärztinnen und Ärzten und letztlich somit auch bei Patientinnen und Patienten in Deutschland ankommen, ist es im ersten Schritt nötig, die passenden Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.“

Die wichtigsten Hebel dafür sind laut Gruppe:

  • Reform des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG)
  • Digitalisierung des Gesundheitswesen
  • Verbesserte Bedingungen für klinische Studien in Deutschland

Was muss sich beim AMNOG ändern?

Das AMNOG regelt seit 2011 die Nutzenbewertung neuer Medikamente. Doch viele Arzneimittel scheitern in Deutschland nicht an fehlender Wirksamkeit, sondern an formalen Anforderungen. „Wenn gegenwärtig ein Medikament die Bewertung ‚Zusatznutzen nicht belegt‘ erhält, geschieht dies in 90 Prozent der Fälle aus formalen Gründen“, sagt Gruppe. Das bedeute, dass existierende Evidenz bzw. Daten nicht in die Bewertung einfließen, weil sie nicht den formalen Anforderungen entsprechen würden. „Dies kann dazu führen, dass Medikamente, die – mitunter auch nach Einschätzung führender Experten oder der Behörden in anderen Ländern – eine echte Verbesserung für die Versorgungssituation der Patientinnen und Patienten darstellen, in Deutschland nicht auf den Markt kommen.“ Seine Forderung: 

„Die Nutzenbewertung muss dahingehend reformiert werden, dass sie Innovationen anerkennt, damit die Patientinnen und Patienten in Deutschland von ihnen profitieren können.“

Warum ist Deutschland als Studienstandort im Rückstand?

Im internationalen Ranking zur Zahl der klinischen Studien sei Deutschland auf Rang 7 zurückgefallen, so Gruppe. Das liege vor allem daran, dass die Durchführung von klinischen Studien in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern auch innerhalb Europas wenig harmonisiert und deshalb sehr komplex und langsam sei. „Das 2024 beschlossene Medizinforschungsgesetz, kurz MFG, ist ein hier ein Schritt in die richtige Richtung.“

Was bringt das neue Medizinforschungsgesetz (MFG)?

Das 2024 verabschiedete MFG soll den Studienstandort stärken. Die Abstimmungsprozesse mit den Ethikkommissionen soll vereinfacht und über die Einführung verbindlicher Standardvertragsklauseln Bürokratie abgebaut werden. Arzneimitteln, die zu einem bestimmten Prozentsatz in Deutschland klinisch geprüft wurden, sollen größere preisliche Verhandlungsspielräume erhalten. Die Vorteile für Patienten und Ärzte: Patientinnen und Patienten erhalten durch die Teilnahme an Studien früher Zugang zu möglicherweise besseren Behandlungen. Ärztinnen und Ärzte erfahren früher von innovativen Therapiemöglichkeiten und können sich mit diesen vertraut machen. Doch bisher, so Gruppe, ist das alles Theorie.

„Das MFG muss jetzt schnell umgesetzt werden – bisher ist es nur Papier.“

Wie hilft die Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften?

Neben regulatorischen Reformen ist auch die Kommunikation zwischen Pharma und ärztlichen Fachkreisen entscheidend.

„Eine transparente und verantwortungsbewusste Zusammenarbeit zwischen Pharmaindustrie und ärztlichen Fachgesellschaften fördert in beide Richtungen den Informationsfluss.“

Die Vorteile:

  • Pharmaunternehmen liefern Studienergebnisse und fördern wissenschaftlichen Austausch
  • Fachärztinnenund -ärzte geben Rückmeldung zu Anwendbarkeit und Praxisrelevanz.

Fazit: Was muss jetzt passieren, damit Medikamente schneller ankommen?

Der Innovationsmotor Human Pharma läuft auf Hochtouren – doch die Straße in die Versorgung ist noch voller Schlaglöcher. Abhilfe schaffen können laut Boehringer Ingelheim eine Reform des AMNOG, die Beschleunigung der Studienprozesse durch das MFG und eine intensive Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften. Denn nur so kämen Innovationen dort an, wo sie gebraucht werden: bei den Ärztinnen und Ärzten in der Praxis/Klinik und den Patientinnen und Patienten.


FAQ – Häufige Fragen zur Medikamentenzulassung und Versorgung

Warum dauert die Einführung neuer Medikamente in Deutschland so lange?

Ein Grund ist das derzeitige AMNOG-Verfahren, das formale Anforderungen über medizinische Relevanz stellt – oft mit der Folge, dass Therapien blockiert werden, obwohl sie international anerkannt sind.

Was bringt das neue Medizinforschungsgesetz (MFG)?

Es soll klinische Studien in Deutschland erleichtern – durch Bürokratieabbau, schnellere Ethikprüfungen und Preisanreize.

Wie profitieren Ärzte von mehr Studien?

Sie erhalten früher Einblick in neue Therapieoptionen und können ihre Erfahrungen direkt in die Versorgung einbringen.