„KI kann ein personalisiertes Frühwarnsystem schaffen“

605
Vanessa Lemarié Ada Health
Vanessa Lemarié: "Durch die intelligente Verbindung verschiedener Datenpunkte wie Symptomen, Risikofaktoren und klinischer Vorgeschichte können diese Systeme eine wichtige Rolle bei der richtigen und schnelleren Erkennung von schwer zu diagnostizierenden oder seltenen Erkrankungen spielen." © Ada Health
Künstliche Intelligenz soll die Patientenversorgung vereinfachen und effizienter gestalten. Wo steht KI in der Medizin heute? Was wird künftig möglich sein? Darüber hat Health Relations mit  Vanessa Lemarié, SVP Life Sciences & Rare Diseases bei Ada Health, gesprochen.

Health Relations:  Die KI erhält seit Jahren Einzug in die Medizin, aber bislang entstand vielfach der Eindruck, dass der Punkt, an dem ausgeklügelte KI-Lösungen, insbesondere an der Schnittstelle Arzt-Patient, marktreif sind, noch nicht erreicht war. Wie sehen Sie das?

Vanessa Lemarié: Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt: Während in den vergangenen Jahren viel über das Potenzial von KI in der Medizin gesprochen wurde, sehen wir inzwischen zunehmend Beispiele von transparent erklärbaren und gut evaluierten Lösungen, deren Anwendung in der Medizin man nachvollziehen und unterstützen kann. Diese Lösungen bewähren sich nun auch in der Versorgungspraxis und unterstützen Ärzte bei der Diagnostik und der weiteren Behandlung sowie dem Monitoring ihrer Patienten. Aus diesem Erleben heraus – noch bestärkt durch die verstärkte Hinwendung zu digitalen Lösungen in der Pandemie – öffnen sich nun sowohl Patienten als auch Ärzte zunehmend diesen Lösungen. Aus meiner Sicht ist das ein wichtiger Schritt, weil künstliche Intelligenz und menschliche Ärzte sich ideal ergänzen.

Health Relations:  Inwiefern? Haben Sie dafür ein Beispiel?

Vanessa Lemarié:  Auf künstlicher Intelligenz basierende Systeme können medizinischem Fachpersonal dabei helfen, redundante Aufgaben zu minimieren, Fehler zu vermeiden und die Diagnose- und Versorgungsqualität insgesamt zu erhöhen. Künstliche Intelligenz wird Ärzte aber nicht ersetzen, weil die menschliche Seite der Medizin eine ganz entscheidende ist.

Health Relations:  In welchem Bereich der Medizin sehen Sie aktuell das größte Potenzial für künstliche Intelligenz?

Vanessa Lemarié: Künstliche Intelligenz wird bereits flächendeckend zur Unterstützung der Diagnostik eingesetzt. Algorithmen werten CT-Scans aus und weisen medizinisches Fachpersonal auf Auffälligkeiten hin, die beispielsweise auf Krankheiten wie Lungenkrebs oder Schlaganfälle hindeuten. Von Fachärzten werden Systeme zur klinischen Entscheidungsunterstützung schon in der Alltagsroutine verwendet. Durch die intelligente Verbindung verschiedener Datenpunkte wie Symptomen, Risikofaktoren und klinischer Vorgeschichte können diese Systeme eine wichtige Rolle bei der richtigen und schnelleren Erkennung von schwer zu diagnostizierenden oder seltenen Erkrankungen spielen. Künstliche Intelligenz wird inzwischen zudem vermehrt dafür eingesetzt, die Versorgungspfade für Patienten insgesamt einfacher und effizienter, dabei aber immer auch medizinisch sinnvoll zu gestalten.

„Die meisten Ärzte sehen bereits heute künstliche Intelligenz als wertvolle Unterstützung ihrer Arbeit.“

Health Relations:  Wie sieht es denn in diesen Bereich mit der Unterstützung bzw. Akzeptanz der ÄrztInnen und PatientInnen aus?
Vanessa Lemarié: Aus meiner Erfahrung sehen die meisten Ärzte bereits heute künstliche Intelligenz als wertvolle Unterstützung ihrer Arbeit. Viele haben ein großes Interesse daran, die technologische Entwicklung und die Anwendungsfelder von künstlicher Intelligenz in der Medizin aktiv mitzugestalten. Richtigerweise wird aber auch viel hinterfragt. Sind die Systeme sicher? Sind sie validiert und erprobt? Wie betten sie sich in den tatsächlichen Arbeitsalltag und Workflow ein? Das sind alles sehr gute Fragen, die auch beantwortet werden müssen.

Health Relations:  Und gibt es bereits Antworten hierauf?
Vanessa Lemarié: Für die Akzeptanz von Ärzten ist es aus meiner Sicht entscheidend, dass auf KI basierende Anwendung eine hohe medizinische Qualität nachweisen und sich reibungslos in dem medizinischen Versorgungsalltag einfügen müssen. Das bedeutet auch, dass immer wieder Sorge genommen und Nutzen aufgezeigt werden muss. Und der ist dann je nach berufs- und manchmal auch berufspolitischer Gruppe natürlich aus einer unterschiedlichen Perspektive zu beleuchten. Mit Initiativen wie Patients4Digital setzten sich Patienten inzwischen auch aktiv für eine stärkere Nutzung des Potenzials digitaler Lösungen in der Medizin ein und bringen sich gleichzeitig als wichtige Anspruchsgruppe konstruktiv, aber auch durchaus fordernd in die Konzeption und Weiterentwicklung vieler Lösungen ein, was unbedingt positiv gesehen und von Unternehmensseite unterstützt werden muss.

© Ada Health
© Ada Health

Health Relations:  Mit Ada Health haben Sie bereits 2016 eine App gelauncht, die auf einer KI-Lösung basiert und inzwischen von über 11 Mio. Menschen genutzt wird. Vereinfacht gesagt, kann der Patient hier seine Symptome eingeben und erhält einen Vorschlag bzw. eine Empfehlung, was als nächstes zu tun ist, z. B. sich an einen passenden Arzt wenden. Was kann die App genauso gut oder vielleicht sogar besser als der Arzt?

Vanessa Lemarié: Generell geht es uns nicht um den Vergleich mit Ärzten. Ada stellt auch keine Diagnose, das kann nur der Arzt. Vielmehr wollen wir die Ada-Nutzer dabei unterstützen, mit einer medizinisch sehr fundierten Voranalyse herauszufinden, was die Ursache für Beschwerden sein kann und ob sie auf dieser Wissensgrundlage dann überhaupt einen Arzt aufsuchen sollten oder es vielleicht ein paar Tage Ruhe und/oder Selbstmedikation auch schon richten können. Ada kennt dabei tausende von Erkrankungen und Symptomen und kann diese quasi in Echtzeit mit den von den Nutzern eingegebenen Beschwerden und Risikofaktoren in Verbindung setzen, um alle in Frage kommenden Krankheitsbilder zu identifizieren – das schafft keine menschliche sondern nur künstliche Intelligenz. Damit kann Ada Menschen dabei helfen, schneller zur richtigen ärztlichen Diagnose zu gelangen. Beispielsweise gibt es über 7000 seltene Erkrankungen, die kein Arzt alle kennen kann. Der erste Hinweis auf eine mögliche vorliegende seltene Erkrankung ist oftmals entscheidend, weil dadurch die Zeit bis zur richtigen Diagnose und Behandlung signifikant verkürzt werden kann – und diesen Hinweis kann Ada in vielen Fällen schneller und schon sehr zuverlässig geben.

Health Relations: Sie haben die App weiterentwickelt, kooperieren bspw. mit verschiedenen Gesundheitsdienstleistern, Krankenversicherungen und NGOs. Wie sieht Ihr Geschäftsmodell aus?

Vanessa Lemarié: Wir glauben, dass jeder Mensch Zugang zu qualitativ hochwertigen, personalisierten Gesundheitsinformationen und medizinischer Versorgung haben sollte, deshalb ist die Symptomanalyse der Ada-App für jeden Menschen mit einem Smartphone kostenlos nutzbar.  Darüber hinaus bieten wir Adas Unternehmenslösungen weltweit für Gesundheitsdienstleister, Krankenkassen und andere Organisationen an. Ada ist dann die “digitale Eingangstür” bzw. erste Anlaufstelle für Nutzer, die basierend auf Adas Empfehlungen direkt die passende Versorgung innerhalb des Ökosystems unserer Kunden ansteuern können. Wir kooperieren auch mit Life Science-Unternehmen, die uns zum einen dabei helfen, weitere Krankheitsbilder in Adas medizinischer Wissensbasis richtig abzubilden und zum anderen Adas Lösungen in eigene Awareness-Websites oder anderweitige digitale Kampagnen einbinden.

„Künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, Informationen mit dem aktuellsten Stand der medizinischen Wissenschaft in Verbindung zu setzen. Daraus wird eine Art personalisiertes Frühwarnsystem für Gesundheit resultieren“

Health Relations: Wie genau sieht die  Zusammenarbeit mit Pharmaunternehmen aus? Auf globaler Ebene haben Sie bereits die App in globale Awareness-Kampagnen von Pharmakonzernen integrieren können.

Vanessa Lemarié: Wir schalten grundsätzlich keine “Werbeanzeigen” in der Ada-App. Vielmehr sehen wir Adas Lösungen als zusätzliches Angebot an Patienten, mit dem Pharmaunternehmen die Attraktivität und den Mehrwert der eigenen Awareness-Kampagnen steigern können. Ada kann ja sehr viel mehr als der klassische Screening-Fragebogen für eine bestimmte Erkrankungsform, der sonst im Rahmen dieser Kampagnen eingesetzt wird. Nutzer können dann z.B. direkt auf der Website mit Ada ihre Symptome auf eine mögliche vorliegende Erkrankung überprüfen.  Je nach Länderkontext werden beim wahrscheinlichen Vorliegen der Erkrankung dann auch weitere nächste Schritte angeboten, wie z. B. das Abrufen zusätzlicher medizinischer Informationen, das Buchen eines Termins bei einem Spezialisten oder Telemedizinanbieter oder das Aufzeigen von Möglichkeiten zur Teilnahme an Studien. Für Pharmaunternehmen ist das eine gute Möglichkeit, die Interaktivität der eigenen Kampagne zu erhöhen und Patienten gleichzeitig medizinisch fundiert weitere Orientierung und konkrete nächste Schritte anzubieten.

Health Relations: Sind Sie offen für Kooperationen auf dem deutschen Markt?

Vanessa Lemarié: Wir arbeiten bereits mit zahlreichen namhaften Pharmaunternehmen auf dem deutschen Markt zusammen. Im Kern all dieser Kooperationen steht erst einmal das gemeinschaftliche Interesse, Ada Nutzern eine wirklich umfassende Symptomanalyse bieten zu können und sicherzustellen, dass die Nutzer mit der Information zu einem Krankheitsbild auch nicht allein gelassen werden, sondern direkt einen Arzt oder Apotheker als aufnahmebereiten, medizinisch kompetenten Ansprechpartner finden. Deswegen arbeiten wir mit Pharmaunternehmen zusammen, aber auch mit Patientenorganisationen und mit der Ärzteschaft, gerne auch in Deutschland. Erkenntnisse aus ihrer klinischen Praxis sind unschätzbar wertvoll, da sie in der klassischen Fachliteratur oftmals nicht beschrieben sind. Durch die multidisziplinäre Zusammenarbeit können klinisches Feedback sowie Ergebnisse von zu teils noch unveröffentlichten Studien oder Marktforschungen von Pharmaunternehmen direkt in die Weiterentwicklung der Ada-Modelle mit fließen. So haben wir beispielsweise von der Expertise von Pfizer profitieren dürfen, um Akromegalie und Amyloidose in Ada akkurater abzubilden. Gleiches gilt für die Unterstützung durch Takeda im Bereich pädiatrische und adulte Formen des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndromes. Die Kooperationen helfen nun allen Ada-Nutzern, die möglicherweise an einer dieser Erkrankungen leiden, schneller den ersten Diagnoseverdacht erhalten zu können und dann gemeinsam mit dem Arzt die medizinische Abklärung sowie anschließende Behandlung einzuleiten.

Health Relations:  Geben Sie uns zum Schluss noch Ihren persönlichen Ausblick auf die Zukunft von KI: „Künstliche Intelligenz in der Medizin wird in den nächsten 5 Jahren…“

Vanessa Lemarié: … in der Lage sein, viele Erkrankungen zu verhindern, bevor sie überhaupt entstehen bzw. sich manifestieren. In den kommenden Jahren werden immer mehr Informationen aus individuellen Datenquellen wie Wearables, Laborbefunden oder Genomsequenzierungen zur Verfügung stehen. Künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, diese Informationen mit dem aktuellsten Stand der medizinischen Wissenschaft in Verbindung zu setzen. Daraus wird eine Art personalisiertes Frühwarnsystem für Gesundheit resultieren, das Menschen befähigt, frühzeitig individuelle Risiken zu erkennen und präventive Schritte zu ergreifen. Mit Ada wollen wir an der Spitze dieser Entwicklung stehen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein