Wie sich Nutzungsdaten in psychologische Profile übersetzen lassen – und was das für die Fachgruppenansprache bedeutet. Alexandra Mertz, Psychologin und Creative Consultant bei Spirit Link, über Behavioural Targeting.

Health Relations: Behavioural Targeting in der Fachgruppenkommunikation – speziell im Pharmakontext – ist unser Thema. Was genau versteht man darunter, möglichst kompakt zusammengefasst?

Alexandra Mertz: Behavioural Targeting bedeutet, dass man digitales Verhalten – in unserem Fall das von Ärztinnen und Ärzten – analysiert, um Rückschlüsse auf Interessen, Informationsbedarfe und Entscheidungspräferenzen zu ziehen. Der Unterschied zur klassischen demografischen Segmentierung besteht darin, dass nicht gefragt wird „Wer ist das?“, sondern „Wie verhält sich jemand?“ – und daraus leitet man ab: „Wie denkt jemand?“.

Was ist Behavioural Targeting?

Behavioural Targeting ist eine Methode der digitalen Kommunikation, bei der Nutzer und Nutzerinnen basierend auf ihrem Verhalten angesprochen werden – nicht aufgrund klassischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Beruf. Verwendet werden Daten über Klickverhalten, Verweildauer, Themenpräferenzen oder genutzte Inhalte. Ziel ist es, daraus Rückschlüsse auf Interessen, Motivationen und kognitive Stile zu ziehen und passgenaue Inhalte auszuspielen. Im Pharmamarketing kann dies bedeuten, dass medizinisches Fachpersonal nicht mehr pauschal angesprochen wird, sondern Inhalte auf Grundlage tatsächlichen digitalen Verhaltens individualisiert werden – ein Ansatz, der vor allem durch den Wegfall von Third-Party-Cookies zunehmend an Relevanz gewinnt.

Health Relations:Diese Methode wird aktuell relevanter – nicht zuletzt durch das Auslaufen der Third-Party-Cookies. Wie lässt sich Verhalten überhaupt segmentieren?

Alexandra Mertz: Richtig. Sie gewinnt an Relevanz, weil sich die Datenlage ändert. In Zukunft werden wir auf First- und Zero-Party-Daten zurückgreifen. Über Trackingtools erfassen wir das Verhalten auf Webseiten und leiten daraus Segmente ab. Diese basieren idealerweise auf kognitiven Stilen und Motivlagen. Zum Beispiel: Wie treffen Menschen Entscheidungen? Sind sie eher intrinsisch oder extrinsisch motiviert? Daraus leiten wir Wahrscheinlichkeiten ab und spielen dann adaptierte Inhalte aus – mit hoher Relevanz für das jeweilige Segment.

Health Relations:Ist dieses Verfahren in der Pharmabranche bereits etabliert?

Alexandra Mertz: Leider nicht. Die Pharmabranche ist meiner Einschätzung nach weit hinten. Grund dafür sind die regulatorischen Vorgaben und internen Freigabeprozesse. Wenn ich viele Segmente bediene, steigt der Aufwand exponentiell – das ist bei kurzfristigen Projekten gegebenenfalls schwer zu stemmen.

Health Relations:Aber durch den Wegfall der Third-Party-Daten wird Behavioural Targeting dennoch wichtiger?

Alexandra Mertz: Absolut. Es gewinnt definitiv an Bedeutung.

Health Relations: Sie haben uns ein Fallbeispiel mitgebracht – ein fiktives Beispiel aus dem MS-Bereich. Können Sie daran den Ablauf konkretisieren?

Alexandra Mertz: Sehr gern. Nehmen wir ein HCP-Portal eines Pharmaunternehmens. Mit einem Trackingtool erfassen wir dort, welche Inhalte wie lange betrachtet werden, was heruntergeladen wird oder wie schnell gescrollt wird. Darauf basierend bilden wir Segmente, und entscheiden uns, welche wir ansprechen wollen, also für unsere Zielgruppen.
Beispiel: Ein datengetriebenes Segment liest tief in Studiendaten, lädt Originalpublikationen herunter. Ein anderes, emotional orientiertes Segment klickt eher auf Videos oder Patientenberichte. Für diese Gruppen entwickeln wir dann spezifische Inhalte und passen Kommunikationskanäle an – zum Beispiel E-Mails mit Studiendaten für das erste Segment und persönliche Erfahrungsberichte für das zweite.

Health Relations:Wie tief lässt sich so segmentieren?

Alexandra Mertz: Es geht schon sehr tief – über First-Party-Daten definitiv. Aber wir brauchen mehr Studien, um belastbare Muster abzuleiten. Zero-Party-Daten, also direkt abgefragte Informationen, sind weniger zuverlässig, da Selbstbild und Verhalten oft nicht übereinstimmen.

Health Relations:Und Kanäle? Lassen sich auch diese segmentbasiert anpassen?

Alexandra Mertz:Ja. Podcasts oder Videos sprechen emotional orientierte Ärztinnen und Ärzte eher an, während wissenschaftlich Interessierte auf E-Mails mit Studienzusammenfassungen besser reagieren. Auch der Außendienst kann angepasst werden: persönliche Ansprache versus faktenbasierte Argumentation.

Health Relations:Welche Rolle spielen KI-gestützte Tools?

Alexandra Mertz: Eine sehr große. KI kann Mikroverhalten wie Scroll-Geschwindigkeit oder Themenwechsel analysieren und daraus psychologische Muster erkennen. Auf Basis dieser Muster kann die KI Inhalte optimieren – zum Beispiel einfacher aufbereiten oder gezielt zu einem Call-to-Action führen. Consent ist weiterhin unerlässlich. Die Einwilligung holt man am besten durch Vertrauen in die Marke ein. Wenn ein Unternehmen übertreibt oder enttäuscht, wird es schwierig.

„Ideal wäre eine Indikationserweiterung, bei der man etwa ein Jahr Vorlauf hat, um Verhalten zu analysieren und entsprechende Inhalte zu entwickeln.“

Health Relations:Wie fließen die Erkenntnisse in die Kommunikation ein?

Alexandra Mertz: Landingpages können modular aufgebaut sein. Eine Mail verweist dann per Sprungmarke direkt auf relevante Inhalte – Studiendaten oder Patientenberichte, je nach Segment. Auch Sprache lässt sich anpassen: Extravertierte bevorzugen andere Tonalitäten als Introvertierte. Das geht bis hin zur Frage, wie mit gefetteten Textpassagen gearbeitet wird.

Health Relations:Es gibt also zahlreiche Untersegmente, wenn man es intensiv betreiben möchte?

Alexandra Mertz: Ja, man kann zusätzlich nach Entscheidungsstil, Persönlichkeit oder aktuellem Zustand – State vs. Trait – segmentieren. „State“  meint die vorübergehenden Verhaltensweisen oder Gefühle, die von der Situation und den aktuellen Umständen abhängen. „Trait“ hingegen beschreibt stabile und dauerhafte Persönlichkeitsmerkmale, die unabhängig von der Situation bestehen. In der Praxis orientiert sich die Tiefe der Segmentierung an Zielsetzung und Ressourcen.

Health Relations:Welche großen Herausforderungen sehen Sie bei der Einführung in Pharmaunternehmen?

Alexandra Mertz: Erstens: ein notwendiger Mindset-Shift – weg von starrer Zielgruppenlogik hin zu verhaltensbasierter Ansprache. Zweitens: der ethische Aspekt – Psychologie darf nicht als Manipulation verstanden werden. Drittens: Geduld. Verhalten zu verstehen, braucht Zeit. Ich arbeite mit Studiendaten und konkreten Beispielen. Das Ganze hat schließlich Hand und Fuß. Wichtig ist, mutige Erstkunden zu finden, die mitziehen. Dann wirkt es wie ein Schneeballsystem.

„Ärztinnen und Ärzte wollen keine Werbung, sondern Orientierung.“

Health Relations:Funktioniert Behavioural Targeting nur im digitalen Marketing?

Alexandra Mertz: Offline geht es prinzipiell auch – aber es erfordert hervorragend geschultes Personal, etwa im Außendienst, der bestimmte Reaktionen des Kunden dann entsprechend zu deuten weiß. Realistisch ist das aktuell nur eingeschränkt.

Health Relations:Was muss ein Unternehmen mitbringen, um verhaltensbasiertes Targeting, also Behavioural Targeting, zu implementieren?

Alexandra Mertz: Geduld, Budget und eine mittel- bis langfristige Perspektive. Für kurzfristige Kampagnen – etwa bei einem Launch in wenigen Wochen – ist es nicht geeignet.

Health Relations:Für welche Anwendungsfälle ist es besonders sinnvoll?

Alexandra Mertz:Ideal wäre eine Indikationserweiterung, bei der man etwa ein Jahr Vorlauf hat, um Verhalten zu analysieren und entsprechende Inhalte zu entwickeln.

Health Relations: Und was ist die ganz große Chance?

Alexandra Mertz:Echte Relevanz. Ärztinnen und Ärzte wollen keine Werbung, sondern Orientierung. Wenn Inhalte auf persönlichem Verhalten basieren, fühlen sie sich gesehen – das erzeugt Vertrauen.

Health Relations:Der Aufwand scheint hoch. Kann sich das wirklich lohnen?

Alexandra Mertz:Händisch wäre es aufwendig. Mit KI ist der Mehraufwand überschaubar. Man braucht lediglich den Mut, diesen neuen Weg zu gehen – inhaltlich kann man viel automatisieren. Aus meiner Sicht sind es vor allem kulturelle Hürden, weniger der Aufwand, der für Skepsis sorgt. Organisationen müssen bereit sein, Kontrolle abzugeben und auf Psychologie und datenbasierte Kommunikation zu vertrauen.

Health Relations:Wagen wir den Blick in andere Branchen. Da ist verhaltensbasiertes Marketing bereits geübter, oder?

Alexandra Mertz: In FMCG (Fast Moving Consumer Goods, Anm. Der Redaktion) ist Behavioural Targeting längst Standard – zum Beispiel in der Programmatic Advertising. Pharma hinkt hinterher, nicht, weil es nicht möglich wäre, sondern weil die Hürden, die wir bereits benannt haben, höher sind.

Health Relations:Ist Behavioural Targeting eher ein Add-on oder kann es klassische Segmentierung ersetzen?

Alexandra Mertz: Es ist derzeit ein Add-on für mutige Unternehmen. Ich hoffe, dass es sich mittelfristig als Standard etabliert – aber bis dahin braucht es Vorreiter.


FAQ: Behavioural Targeting in der Pharmakommunikation

  • Was ist Behavioural Targeting? Ein Ansatz, bei dem Nutzerdaten wie Klickverhalten, Verweildauer oder Downloadaktionen analysiert werden, um daraus psychologische Profile und Kommunikationsstrategien abzuleiten.
  • Warum wird es gerade jetzt so wichtig? Durch den Wegfall von Third-Party-Cookies rücken First- und Zero-Party-Daten ins Zentrum. Verhalten ersetzt klassische demografische Merkmale.
  • Welche Daten spielen eine Rolle? Verhaltensdaten auf Websites: Scroll-Tempo, Klickpfade, bevorzugte Inhalte. Daraus entstehen datengetriebene Segmente.
  • Wie tief lässt sich segmentieren? Sehr tief: von Motivlagen über kognitive Stile bis zur situativen Verfassung. Voraussetzung: qualitative Datenbasis und KI-Tools.
  • Welche Kanäle lassen sich anpassen? E-Mail, Podcast, Video, Landingpage, Außendienst. Form, Sprache und Content-Format richten sich nach den Vorlieben des Segments.
  • Welche Herausforderungen gibt es? Hoher Freigabeaufwand, ethische Abwägungen, kulturelle Barrieren in Unternehmen. Vor allem: der notwendige Mindset-Shift.
  • Was ist die größte Chance? Relevanz. Ärzt:innen wollen keine Werbung, sondern Informationen, die zu ihrem Verhalten und Denken passen. Das schafft Vertrauen.