Claudia Alsdorf, STACKIT: „Wir brauchen Technologie-Souveränität made in Europe“

© STACKIT
Fachkräftemangel, Strukturkrise, Demografie: Das deutsche Gesundheitswesen steht unter Druck. Doch das birgt auch die Chance auf Veränderung, sagt Claudia Alsdorf, Head of Business Development beim deutschen Cloud-Anbieter STACKIT. Wieso es jetzt Mut, Mindset und einen neuen Umgang mit Daten braucht.
Health Relations: Frau Alsdorf, wie ist es um die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen bestellt?
Claudia Alsdorf: Einerseits sind wir im internationalen Vergleich nicht besonders gut aufgestellt. Schaut man sich die einschlägigen Studien an, besetzen wir im Vergleich mit anderen europäischen Ländern meist die hinteren Plätze.
Andererseits ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland nach wie vor sehr gut, dank gesetzlicher Rahmenbedingungen und guter Erfindungen wie der Gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Dinge nehmen wir als selbstverständlich hin, das sind sie global gesehen aber nicht.
Health Relations: Was sind relevante Digitalisierungshemmnisse?
Claudia Alsdorf: Wenn wir über Digitalisierung sprechen, sprechen wir erstens über das Sammeln von Daten und zweitens den Zugang dazu. Beim Sammeln von Informationen sind wir in Deutschland sehr gut. Das hat mit unserer Bürokratie zu tun und unserem Hang zur Hundertprozentigkeit. Nicht so gut sind wir darin, die Zugänglichkeit von Informationen zu gewährleisten und einen Rahmen zu finden, der die Stakeholder vernetzt.
„Wir sind sehr gut im Sammeln von Daten. Nicht so gut sind wir darin, die Informationen zentral zugänglich zu machen.“
Health Relations: Warum fällt es uns so schwer, mehr Zugang zu Daten zu schaffen? An welchen Stellschrauben müssen wir drehen?
Claudia Alsdorf: Die Daten liegen in Deutschland an unterschiedlichsten Stellen. Grund dafür sind der Föderalismus und ein Silo-Denken zwischen Leistungserbringern, Kostenträgern, Patienten, Forschung und der Pharmaindustrie. Es fehlen derzeit noch zentrale Datenzugangsstellen. Im Rahmen des European Health Data Space ist jedoch von der EU vorgeschrieben, dass geschützte Datenräume im Gesundheitswesen geschaffen werden. In Deutschland stehen wir damit aber noch am Anfang.
Die Themen Datenschutz und -sicherheit stehen hierzulande zu Recht sehr hoch im Kurs: Ohne sie gibt es keine Akzeptanz dafür, dass Menschen oder Organisationen ihre Daten zur Verfügung stellen. Dafür müssen wir die Datenkompetenz in der Bevölkerung fördern, etwa über Schulungen. Darüber hinaus müssen diese Themen so kommuniziert werden, dass sie jeder versteht. Da sind wir im Moment noch zu technisch und komplex unterwegs.
Health Relations: Wie lassen sich datenbezogene Themen denn einfach kommunizieren?
Claudia Alsdorf: Mein liebstes Beispiel ist das Opt-Out-Verfahren (Anm. der Red.: Bei Opt-Out-Verfahren nehmen Menschen automatisch an Maßnahmen wie einem Newsletter oder einer Datensammlung teil. Sie können dem aktiv widersprechen, indem sie z.B. ein Häkchen entfernen oder einen Abmeldelink klicken). Viele Krankenkassen geben in ihren Apps heute einfache Erklärungen, über die die Nutzenden im Opt-Out-Verfahren entscheiden können. Auch in vielen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ist das ein Positivbeispiel für Innovation, Zugänglichkeit und Nutzerfreundlichkeit. Zwar sind wir in Deutschland etwas spät darauf gekommen. Aber es ist so ein guter und simpler Gedanke, den Menschen selbst die Kontrolle über ihre Daten zu überlassen.
„Ist der Leidensdruck groß genug, entsteht Bereitschaft zur Veränderung.“
Health Relations: Was sind die wichtigsten Treiber für einen neuen Umgang mit Daten im deutschen Gesundheitswesen?
Claudia Alsdorf: Der Fachkräftemangel, die Strukturkrise in den Krankenhäusern, der Kostendruck, der enorme Druck auf die Pflege und auch die Erkenntnis, dass mit einer alternden Bevölkerung Prävention immer wichtiger wird. All diese Treiber ergeben ein psychologisches Momentum: Ist der Leidensdruck groß genug, entsteht Bereitschaft zur Veränderung.
Health Relations: Geht die Veränderung schnell genug voran?
Claudia Alsdorf: Nein. Nehmen wir die ePA. Sie ist ein positives Beispiel – negativ aber ist das langsame Rollout-Verfahren. Ausgewählte Länder sollten den Anfang machen, erst nach Jahren der Diskussionen startete der Testbetrieb. Die Umsetzung dauerte also viel zu lange. Hinzu kommt, dass die ePA nicht nutzerfreundlich ist. Sie umfasst auch nicht die gesamte „Patienten-Journey“ von der Prävention über die Hausarztpraxis und die Aufnahme ins Krankenhaus bis zur Nachsorge.
Health Relations: Wie lassen sich solche Prozesse verbessern?
Claudia Alsdorf: Wir brauchen mehr Mut, um neue Technologien einzusetzen – gerade bei den Verantwortlichen in der öffentlichen Verwaltung. Aktuell agieren wir zu bürokratisch und entwickeln allumfassende Lösungen, die jede noch so kleinste Eventualität abdecken.
Stattdessen müssen wir agil und flexibel nutzerfreundliche Anwendungen entwickeln. Dazu sollten wir innovative Start-ups, Forschungsinstitute etc. einbeziehen, schnell in Testphasen gehen und dann nachbessern.
Health Relations: Mit STACKIT richten Sie sich an hochregulierte Branchen wie das Gesundheitswesen. Wie lassen sich Digitalisierung und Regulatorik unter einen Hut bringen?
Claudia Alsdorf: Das ist kein Widerspruch. Wir brauchen eine Balance zwischen Innovation und einem Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Technologien. Was dazu aktuell aus der EU heraus vorangetrieben wird, etwa der Digital Services Act und der Digital Markets Act, sind gute Ansätze.
„Wir haben uns von Technologien abhängig gemacht, aus denen es kaum ein Entkommen gibt.“
Das Problem ist: Wir haben uns von Technologien abhängig gemacht, aus denen es kaum ein Entkommen gibt. Wir müssen in Europa Technologien entwickeln, die uns unabhängig machen von solchen, die wir in der EU nicht mehr kontrollieren können. Diese Erkenntnis setzt sich – auch mit Blick auf die geopolitischen Spannungen – immer mehr durch.
Haben wir unsere Technologien selbst in der Hand, beantworten sich viele Fragen aus DSGVO und Regulatorik von selbst. Denn dann liegen auch die Daten in Deutschland und der EU und werden hier verarbeitet. Wir brauchen eine Technologie-Souveränität „made in Europe“.
Health Relations: Welche Rolle spielt Kommunikation bei der weiteren Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Claudia Alsdorf: Kommunikation ist einer der wichtigsten Punkte, um Veränderungen zu begleiten. Das müssen wir viel ernster nehmen. Wir fokussieren auf Technologie, Regulatorik oder Bürokratie und lassen den Menschen außen vor.
Wir müssen die nötige Digitalisierungskompetenz in der Bevölkerung, bei Leistungserbringern und Kostenträgern gewährleisten. Wir müssen wir auch mehr Inklusion für ältere Menschen schaffen. Meine Eltern sind über 80 – wenn sie sich für eine Anwendung über viele unterschiedliches Schritte registrieren müssen, steigen sie aus. Und nicht zuletzt braucht es mehr Bewusstsein für Prävention in der Bevölkerung. Das kann man kommunikativ über z.B. Gamification fördern, die uns spielerisch bestätigt, wenn wir genug Schritte am Tag gehen oder ausreichend Schlaf bekommen.
Health Relations: Wenn wir fünf Jahre nach vorne schauen: Wie soll sich die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens entwickelt haben?
Claudia Alsdorf: Ich möchte in fünf Jahren sagen können, dass die Versorgung der Menschen eine bessere ist, wir mehr Präventionsmaßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen entwickelt haben und die Qualität der Versorgung gestiegen ist. Dass wir resilienter mit Pandemien und Krisen umgehen können, wir den Fachkräftemangel durch Effizienzsteigerung im Griff haben und auch Themen wie Überlast und Burnout reduzieren konnten.
Health Relations: Wie realistisch sind diese Ziele?
Claudia Alsdorf: Der Leidensdruck ist groß, deswegen halte ich sie für realistisch. Die Technologien sind da, jetzt müssen wir noch den Wandel im Mindset hinbekommen.