„Der digitale Zwilling ist nur so gut wie die Daten, mit denen er umgeht“
KI und Innovationen wie der digitale Zwilling kommen im Pharmabereich bereits in der Medikamentenproduktion zum Einsatz, sie könnten auch die Medizin verändern. Aber das braucht Zeit. Vielleicht zu viel, sagt Malte Fritsche vom Digitalverband Bitkom.
Pilotmodell eines digitalen Zwilling entwickelt, das die Medizin nach eigener Aussagbe evolutionieren kann. Wie beurteilen Sie Projekte wie dieses?Malte Fritsche: Der digitale Zwilling ist ein absolutes Zukunftsthema. Er wird für den gesamten Gesundheitsbereich neue Versorgungs- und Therapieansätze eröffnen. Das passiert aber sicherlich nicht mit einem großen Knall, sondern eher sukzessive. Gerade in Anbetracht unseres Gesundheitssystems und dessen Eigenheiten. Der Weg dahin kostet natürlich Geld. Es muss viel in die Grundlagenforschung investiert werden, bevor wir von der Effizienz profitieren, was die Patientenversorgung, aber auch Kosteneinsparungen angeht.
Health Relations: In welchen Bereichen innerhalb der Pharmabranche ist denn ein System wie der digitale Zwilling aus Sicht Ihres Verbandes interessant?Malte Fritsche: In der Arzneimittel-Produktion spielt er heute schon eine Rolle. Ein großer Innovationsfaktor ist der digitale Zwilling aber bei der Versorgung langfristiger, chronischer Erkrankungen, weil wir es hier mit vielen und multidimensionalen Daten über sehr lange Zeiträume zu tun haben, die nur schwer durch die menschliche Hand effektiv zusammengeführt werden können. Das ist genau der Punkt, wo wir, wenn die KI zum Tragen kommt, ganz neue Möglichkeiten haben, die Daten sinnvoll zusammenzuführen und dann auch Muster zu erkennen. Je mehr und qualitativ hochwertige Daten erhoben werden, desto größer ist das Nutzenpotenzial des digitalen Zwillings. Wir müssen auf dem Weg aber auch darauf Acht geben die Ärzt:innen und das medizinische Personal mitzunehmen, damit sie in dieser Entwicklung Schritt halten können.
Health Relations: Die Anwender:innen einzubeziehen, ist ein wichtiger Punkt. Fachgruppen zum Beispiel an Universitätskliniken sind in der Arbeit mit innovativen Technologien vielleicht geübter als ein niedergelassener Arzt oder Ärztin. Kann ein Modell wie der digitale Zwilling überhaupt in die Grundversorgung eingehen?Malte Fritsche: Ja, ich glaube schon. Grundsätzlich herrscht Offenheit für das Thema. Ich denke aber, es wird darauf ankommen, die Vorteile und Chancen dieser Technologien zu kommunizieren, dafür zu werben, Neugier zu wecken. Zumal über die ePA, an der auch die Hausärzt:innen angeschlossen sein werden, ein Teil der Daten kommen wird, die wir für den digitalen Zwilling brauchen. Ohne geht es nicht.
Health Relations: Das ist der Punkt, denn da spielt natürlich auch der niedergelassene Arzt wahrscheinlich eine zentrale Rolle, denn er oder sie generiert mit den Patient:innen eine Menge Daten.Malte Fritsche: Deshalb brauchen wir schnell eine breit ausgerollte ePA, die auch umfangreich befüllt wird. Anderes Thema, aber es hängt zusammen.
Health Relations: Im Grunde hakt es ja schon an der Basis, bei der digitalen Vernetzung. Das ganze Thema KI und Zukunftstechnologie braucht wirklich einen langen Atem, oder?Malte Fritsche: Ja. Es müssen unbedingt zukunftsfeste Rahmenbedingungen geschaffen werden für den Datenzugang und die Forschung. Der digitale Zwilling ist ja nur so gut wie die Daten, mit denen er umgeht. Können wir das in Deutschland auf die lange Bank schieben? Wir brauchen Tempo bei der Umsetzung – national mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz genauso wie auf europäischer Ebene mit dem EHDS. Ein Zeitraum für die praktische Umsetzung in die Praxis bis Ende des Jahrzehnts, wie erste Entwürfe es zeigen, ist viel zu lang. Das können wir uns nicht leisten. Ich glaube, dass wir in Europa dann von Realitäten überholt werden, weil andere einfach schneller bei diesem Thema sind.
Health Relations: Die Politik muss also dringend Rahmenbedingungen für technologische Innovationen im medizinischen Bereich umsetzen, gerade auch mit Fokus auf Datensicherheit und -management, Anwender:innen müssen offen für das Thema sein, Vertrauen haben. Hier kommt die Kommunikation ins Spiel. Das Schöne an einem Modell wie dem digitalen Zwilling ist in meinen Augen: Es lässt sich relativ leicht erklären.Malte Fritsche: Ja, tatsächlich. Die Mehrwerte sind offensichtlich: Der digitale Zwilling arbeitet patientenzentriert, kann helfen, ganz individuelle medizinische Entscheidungen zu treffen, kann Krankheitsverläufe prognostizieren, Therapieverläufe skizzieren. Er schafft Transparenz.
Health Relations: Die Pharmabranche und die Forschung müsste also eigentlich mehr Modelle wie diese vorstellen, die besser erklärbar sind, um so vielleicht eine Akzeptanz zu steigern oder vielleicht auch ein Bedürfnis zu schaffen seitens des Patienten oder der Patientin, was den Druck wiederum auf die Ärztin und den Arzt, dann wiederum vielleicht auf die Politik erhöht. Wäre das ein Weg?Malte Fritsche: So kann es funktionieren. Gerade sind wir aber noch in einem Stadium, wo sich vieles innerhalb der Industrie abspielt oder auch im Forschungsumfeld abspielt, noch bevor ich in den breiten Use Case komme. Wir gehen eben einen Schritt nach dem anderen. Es funktioniert leider nicht von heute auf morgen.
Health Relations: Wie setzt sich Bitkom in diesem Kontext ein?Malte Fritsche: Wir verstehen uns auch als Übersetzer und als Verband, der digitale Teilhabe fördert. Dazu gehört natürlich auch, dass die Menschen im digitalen Gesundheitssystem partizipieren können. Wir binden Stakeholder ein und schaffen den Raum für Dialog, um das Thema voranzutreiben. Denn wir glauben an diese Themen!
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