In diesem Artikel lesen Sie:
• Warum das Papier „Boosting eHealth Governance“ geschreiben wurde
•Warum es eine „Allianz der Willigen“ braucht
• Welche Rolle Plattformen künftig spielen werden
• Wer künftig in Konkurrenz zu den Ärzt:innen treten wird
• Was es mit Digital Drugs auf sich hat
Health Relations: Sie und die Mitunterzeichnenden haben in dem Papier „Boosting eHealth Governance“ verschiedene Forderungen gestellt, die zu einem idealen digitalen Gesundheitswesen beitragen sollen. Warum war es wichtig, diese Forderungen zu formulieren?
Dr. Markus Müschenich: Die Grundidee des Papiers war, den Finger noch einmal in die richtige Wunde zu legen – allerdings steht dahinter die Motivation, nicht nur zu meckern, sondern positive Impulse zu geben. Es soll beispielsweise aufgezeigt werden, dass wir nicht nur EIN Problem mit der Digitalisierung haben, sondern mehrere. Es ist etwa nicht nur schwierig, dass es keinen Zugang zu Daten gibt oder es an Interoperabilität mangelt. Wir haben eine Fülle an Problemen, die gelöst werden müssen. Die Unterzeichnenden wollten die Komplexität dahinter formulieren und darlegen, dass an mehreren Stellschrauben gedreht werden muss.
Health Relations: In dem Papier wird der Ruf nach einer „Allianz der Willigen“ laut. Welche Botschaft verbinden Sie damit?
Dr. Markus Müschenich: Wir brauchen eine „Allianz der Willigen““, damit alle Beteiligten an einem Strick ziehen. Die Botschaft lautet: Die Digitalisierung funktioniert bereits jetzt nicht so, wie sie sollte und alle sind Verlierer. Wenn aber alle Verlierer sind, müssen alle an einen Tisch und an einer Lösung arbeiten, mit der nicht alle zu einhundert Prozent, aber doch so glücklich wie möglich werden können. Es braucht also eine gewisse Kompromissbereitschaft. Als Maßstab sollten uns nicht die Interessen einzelner Player im Gesundheitswesen dienen, sondern der Nutzen für die Patienten:innen.
Health Relations: Was bedeutet das, was Sie gerade angesprochen, für die Pharmabranche? Gehört sie auch an den Tisch?
Dr. Markus Müschenich: Unbedingt. Medikamente sind ein essenzieller Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Wenn diese Gesundheitsversorgung nun umfassend digital gestaltet werden soll, gehört auch die Phamabranche dazu. Gleichzeitig bedeutet es auch, dass alle, die die Digitalisierung nicht ebenso umfassend in ihrer Unternehmensstrategie implementieren, einen relevanten Nachteil haben werden. Im Kontext der Digitalisierung scheinen sich die meisten Pharmaunternehmen auf die Frage nach dem Zugang zu und der Analyse von Daten zu fokussieren. Digitalisierung ist allerdings viel mehr. Im Kontext von Pharma geht auch um die Frage, wie Wertschöpfungsketten verändert werden. Das Modell Pharma hängt in weitem Maße von Ärzt:innen als Verschreiber:innen von Medikamenten ab. Diese Funktion wird durch die Digitalisierung infrage gestellt werden. Mindestens das ist ein Grund, warum für die Branche in Sachen Digitalisierung deutlich mehr auf dem Spiel als für viele andere Branchen. Wer das Papier mit strategischem Blick liest, sollte kräftig wachgerüttelt werden.
„Im Kontext der Digitalisierung scheinen sich die meisten Pharmaunternehmen auf die Frage nach dem Zugang zu und der Analyse von Daten zu fokussieren. Digitalisierung ist allerdings viel mehr.“
Health Relations: Wie meinen Sie das? Womit soll sich die Pharmaindustrie beschäftigen?
Dr. Markus Müschenich: Pharma unterschätzt die Digitalisierung massiv. Für die Branche stehen nämlich zwei Paradigmenwechsel an. Wenn alles, was in dem Papier gefordert wird, eintritt und wir eine ideale digitale Landschaft erreichen, dann bahnen wir den Weg für einen eine neue Art der Indikationsstellung bei Therapeutika. Wenn es nämlich für alle eine elektronische Patientenakte (ePA) gibt, werden irgendwann Plattformen entstehen, die auf die ePA zugreifen und aus der Akte heraus automatisch Therapieempfehlungen direkt an den Patienten weitergeben. So werden sich Marktplätze für Gesundheitsleistungen entwickeln. In der Folge schieben sich die erwähnten Plattformen so zwischen Patient:innen und alle anderen Playern im Gesundheitswesen. Wir kennen das von Amazon, das sich zwischen uns als Kunden und den Einzelhandel geschoben hat.
Health Relations: Von wem werden diese Plattformen kommen?
Dr. Markus Müschenich: Das kann ganz unterschiedlich sein. Sie können zum Beispiel von Amazon, einem neuen digitalen Player wie Doctolib, einem Krankenhaus oder – zugegeben eher theoretisch – auch von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kommen. Wichtig ist: Wenn zwischen Patient:innen und den Gesundheitswesen-Playern eine Plattform steht, wird diese Entscheidungen anbahnen und Patient Journeys beeinflussen. Unterstützt wird diese durch Decision Support-Systeme, die von Künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Der Arzt als exklusiver Verordner von Medikamenten ist ein Auslaufmodell.
„Der Arzt als exklusiver Verordner von Medikamenten ist ein Auslaufmodell. „
Health Relations: Wie meinen Sie das?
Dr. Markus Müschenich: Es ist wie beim autonomen Fahren. Heute glauben viele, dass man in der Zukunft entscheiden kann, ob man selber fährt oder den Autopilot aktiviert. Richtig ist, dass mit dem Moment, wo bewiesen ist, dass der Computer besser fährt, der menschliche Fahrer nicht mehr fahren darf. Es mag noch einige Jahre dauern, aber für die Medikamente, die jetzt in die Pipelines der Pharmabranche aufgenommen werden, wird man keinen Außendienst mehr benötigen, der menschliche Ärzt:innen überzeugt. In hochkarätigen Publikationen lässt sich seit Jahren nachlesen, dass Software Krankheiten besser identifizieren und bessere Therapieentscheidungen treffen kann. Genau an dieser Stelle wird es zu einem klaren Wettbewerb zwischen Ärzt:in und Maschine kommen. Aktuell sehen wir jetzt schon bei den DiGA im Kleinen einen Wettbewerb zwischen Ärzt:in und Maschinen.
„Es werden Plattformen entstehen, die auf die ePA zugreifen und automatisch Therapieempfehlungen an den Patienten weitergeben. So werden sich Marktplätze für Gesundheitsleistungen entwickeln.“
Health Relations: Können Sie das ausführen?
Dr. Markus Müschenich: Wird ein Medikament in den Markt gebracht, muss es sich mit einem herkömmlichen Standard-of-Care-Medikament messen. Gibt es einen Zusatznutzen, ist das Produkt im Markt. Der Wettbewerb läuft also Medikament gegen Medikament. Bei der DiGA ist das anders. Der Wettbewerb geht nicht gegen ein Medikament und auch nur vordergründig gegen eine andere DiGA. Vielmehr stehen die DiGA im Wettbewerb mit Therapeut:innen. Eine Psych-DiGA ist kein Wettbewerber für Antidepressiva, sondern in erster Linie für Psychotherapeuten. DiGA haben also eindeutig die Tür für den Wettbewerb von Ärzt:innen nicht nur gegen Decision-Support-Tools, sondern gegen „Digitale Therapeuten“ geöffnet. Auf politischer Ebene diskutieren wir derzeit, ob Krankenpflegekräfte in die Leistungserbringerebene hineinkommen sollen. Die Grünen wollen das über die Community Nurses machen und den Status als Leistungserbringer im SGB V verankern. Ob das tatsächlich kommt, wird sich zeigen, aber sicher ist: Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass diese dann studierten Krankenschwestern oder -pfleger Verordnungen schreiben können. In einem ersten Schritt könnten das zunächst nur Pflegebedarf oder Windeln sein, aber langfristig wird sich das auch in die Richtung von Arzneimittelverordnungen entwickeln. Dies ist ein weiteres Signal, dass die Exklusivität der Ärzteschaft dem Ende entgegengeht.
Health Relations: Was heißt das für die Zukunft?
Dr. Markus Müschenich: Die Idee, dass Ärzt:innen als einzige Medikamente verordnen dürfen, ist veraltet. Wenn wir das Szenario weiterspinnen, gibt es bald neben den rezeptpflichtigen und nicht rezeptpflichtigen Medikamenten auch solche, die nicht mehr von Ärzt:innen verschrieben werden müssen, sondern von Maschinen oder beispielsweise Community Nurses verordnet werden können.
Health Relations: Was bedeutet das für die Pharmabranche?
Dr. Markus Müschenich: Damit verändert sich der klassische Sales-Weg von Pharma. Ich weiß nicht, wie ein Marketing-Konzept aussieht, das eine künstliche Intelligenz von einem Produkt überzeugen will. Hier muss sich Pharma etwas einfallen lassen, damit ihre Medikamente zum Beispiel von Decision Support Systemen empfohlen werden. Das wird bestimmt spannend, wen der Außendienst auf eine Künstliche Intelligenz trifft.
„Pharma etwas einfallen lassen, damit ihre Medikamente zum Beispiel von Decision Support Systemen empfohlen werden.“
Health Relations: Sie sprachen vorhin von mehreren Paradigmenwechseln, mit denen sich die Pharma befassen muss. Einen haben Sie beschrieben. Was ist der zweite?
Dr. Markus Müschenich: Der zweite Paradigmenwechsel zeigt sich zum einen in der zunehmenden Reife von digitalen Anwendungen, die die Pharmakotherapie maßgeblich begleiten. In der Zukunft wird kein anspruchsvolles Medikament mehr ohne digitalen Companion auskommen. Dieser ist dann genauso wichtig oder vielleicht wichtiger als der Wirkstoff. Es wird wie bei Tesla. Hier ist die Software der Wertetreiber und nicht die Hardware. Als Nächstes kommt dann das, was wir Digital Drugs nennen. Dank der weltweiten Human Brain Projects entwickelt sich die nicht-invasive Hirnstimulation auf eine Art weiter, dass Stimulationstechniken entwickelt werden, die über Mainstream Devices wie Smartphones oder VR-Brillen angewendet werden können. Diese werden auch in Indikationsgebieten wie Schmerz, Demenz, Hypertonie oder Übergewicht zum Einsatz kommen. Hier steht die Pharmabranche vor der Frage, ob sie dieses Feld an andere Branchen abgibt oder selber aktiv wird.
Die Unterzeichnenden entwerfen eine Skizze einer von der Selbstverwaltung unabhängigeren gematik, mit der sie Impulse für den angekündigten Strategieprozess des Gesundheitsministeriums setzen wollen. Sie fordern, Digitalisierung nicht isoliert, sondern als Teil einer umfassenden Veränderung des Gesundheitswesens zu betrachten. Welche Forderungen gibt es? (Auszug aus dem Papier „Boosting eHealth Governance“).
- die Weiterentwicklung und Öffnung der Telematikinfrastruktur und der elektronischen Patientenakte (ePA) im Zuge der Umsetzung der TI 2.0,
- die Einbeziehung anderer Leistungserbringer und digitaler Anwendungen außerhalb der TI wie u.a. telemedizinische Plattformen, patientenzentrierten Dienstleistungsplattformen und Patientenportale,
- ihre Weiterentwicklung zu einer von allen Gesundheitsberufen und Patienten nutzbaren Gesundheitslandschaft,
- die Realisierung eines erfahrbaren Kundennutzens durch die BürgerInnen, welches stärker auf Nutzen/Risiko-Abwägungen abzielt, anstatt auf maximaler Risikovermeidung zu beharren, Boosting eHealth Governance
- die Hebung von Effektivitäts- und Effizienzgewinnen durch veränderte Prozesse und sich verändernde sowie neu in die Gesundheitslandschaft eintretende Player. (Umsetzung von Produkt- in Prozessinnovationen),
- ein klares, politisches Bekenntnis (sowohl vom Ministerium als auch den Akteuren der Selbstverwaltung) zum Einsatz von leistungsfähigen und zukunftsorientierten Cloud-Lösungen bei der Datenspeicherung und –verarbeitung sowie der effizienten Entwicklung und Bereitstellung neuer Digitallösungen,
- einheitliche Rahmenbedingungen, die den Einsatz von cloudbasierten Anwendungen in der ambulanten und stationären Versorgung und im Lebensalltag der PatientInnen ermöglichen,
- eine bundesweit einheitliche IT-Sicherheitsrichtlinie, welche die unterschiedlichen Landesrichtlinien ersetzt und eine Nutzung von Cloud-Computing ermöglicht.