Dr. Marion Legler, Bayer, über KI & LLMs: „Was ist möglich, was ist sinnvoll?“
Bayer entwickelt KI-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Large Language Models (LLMs) spielen in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Dr. Marion Legler, Head of Decision Science & Advanced Analytics, über den Einsatz von LLMs, KI-Lösungen und den Drahtseilakt dahinter.
Marion Legler: Der Job gibt mir sehr viel Energie. Das war früher so und das ändert sich nicht. Da sehe ich keinen Unterschied. Ich bin immer schon im Bereich Künstliche Intelligenz unterwegs. Früher gab es andere Herausforderungen, andere Themen. Aber das Thema Künstliche Intelligenz im Gesundheitsbereich war vor fünf Jahren spannend und ist heute auch genauso spannend. Aber mit anderen Herausforderungen und anderen Themen, mit denen ich mich beschäftige.
Health Relations: Womit beschäftigen Sie sich denn im Moment?Marion Legler:Das Unternehmen investiert sehr viel in KI. Mein Job ist, übergreifend gesagt, das Thema Künstliche Intelligenz entsprechend dieser strategischen Wichtigkeit im Unternehmen entsprechend zu vertreten. Ganz konkret heißt das, ich leite eine Organisation aus Data Scientists und Machine Learning Engineers, die KI-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette erstellen. Also angefangen von Forschung und Entwicklung über den Bereich Manufacturing bis hin zu Medical Affairs und Vertrieb.
Health Relations: Das ist ein weit gefächertes Gebiet. Was ist denn die größte Herausforderung in Ihrer aktuellen Tätigkeit?Marion Legler: Wir operieren im Bereich Gesundheit und müssen uns immer wieder fragen: Was ist möglich und was ist unter dem Gesichtspunkt Patientensicherheit auch wirklich sinnvoll? Diese Balance zwischen dem, was möglich ist und dem, was auch wirklich im regulatorischen Rahmen gemacht werden kann, zu finden, ist unsere besondere Verantwortung.
Health Relations: Frau Legler, Sie sind Head of Decision Science & Advanced Analytics. Ist Ihr Job dank AI anstrengender, als er es vorher war?Was ist ein Large Language Model?
Ein Large Language Model (LLM) ist ein statistisches Sprachmodell, das auf einer großen Datenmenge trainiert wird. Es kann verwendet werden, um Text und andere Inhalte zu generieren und zu übersetzen sowie andere Aufgaben zur Natural Language Processing (NLP) auszuführen. Bekannte LLMs sind beispielsweise Chat GPT von Open AI oder PaLM 2 von Google Cloud."LLMs helfen uns also, einen strukturierten Überblick zu bekommen darüber, welche Produkte wie verschrieben werden und welche Fragen dazu gestellt werden."Health Relations: Sie beschäftigen sich gerade besonders mit Large Language Models, kurz LLMs. Was ist denn in diesem Kontext sinnvoll?Marion Legler:Richtig. Hier haben wir viele unterschiedliche Anwendungsfälle entlang der ganzen Wertschöpfungskette. Beginnen wir mit der Forschung und Entwicklung: Stellen Sie sich vor, Sie sind Patientin und nehmen an einer klinischen Studie von Bayer teil. Sie haben einen Arztbesuch und sprechen über die Nebenwirkungen eines Medikaments oder über ihre Krankengeschichte. Dieses Gespräch wird von dem Arzt entsprechend niedergeschrieben – in freier Textform. Für eine klinische Studie müssen wir diesen Text dann in medizinische Codes übersetzen. Für diese Übersetzung von freiem Text in numerische Codes nutzt Bayer Künstliche Intelligenz. Ein Large Language Model dient als Basis. Das ist ein Beispiel aus der klinischen Entwicklung. Aber wir können natürlich auch die Frage stellen, welche Studien wir überhaupt machen müssen. Wenn wir über Phase IV-Studien sprechen, müssen wir wissen, welche Studien vielleicht auch schon gemacht worden sind. Das Team, beispielsweise im Bereich Medical Affairs, braucht einen guten Überblick. Dazu können unsere Kolleginnen und Kollegen jetzt eines unserer selbst entwickelten digitalen Tools nutzen, das auf einem LLM basiert, um in internen und externen Daten kontextbezogen - und nicht mit einer simplen Schlagwortsuche - nach ähnlichen Studien zu suchen. Ein drittes Beispiel wäre der Anwendungsfall, dass ich besser verstehen möchte, wie unsere Produkte in der realen Welt eingesetzt werden. Health Relations: Wie können LLMs hier unterstützen?Marion Legler: Sie müssen sich vorstellen, dass Bayer tagtäglich Abertausende Nachrichten erhält. Seien es Anrufe im Call Center oder von Medical protokollierte Gespräche, zum Beispiel, wenn wir ein Produkt launchen und es Nachfragen gibt zum Beipackzettel oder zu Anwendungsgebieten. All diese Informationen laufen, in Text übersetzt, natürlich bei Bayer zusammen. Jeden Tag, mit jeder Interaktion, in jedem Land der Welt. Das heißt, wir haben enorm viele Informationen vorliegen. Das sind Fälle, anhand derer wir verstehen können, wie unsere Produkte tatsächlich, nach der Markteinführung eingesetzt werden. Wir können daraus Rückschlüsse ziehen, ob beispielsweise zusätzliches Material für Ärzte oder Ärztinnen notwendig ist. LLMs helfen uns also, einen strukturierten Überblick zu bekommen darüber, welche Produkte wie verschrieben werden und welche Fragen dazu gestellt werden. Health Relations: Der Arzt oder die Ärztin ist ein wichtiger Player in diesem System. In welcher Form nehmen Sie sie schon jetzt ins Boot oder planen das zu tun?Marion Legler:Aktuell verwenden wir diese Information hauptsächlich, um unsere eigene Strategie zu schärfen. Also um sicherzustellen, dass keine Botschaft, die uns ein Arzt oder eine Ärztin mitgibt, verloren geht. Wir verwenden diese Tools aktuell nicht, um in eine KI-gesteuerte, aktive Kommunikation mit Ärzten und Ärztinnen zu gehen. So ausgereift ist die Technologie heute schlichtweg noch nicht.
"Denn nur jemand, der auch intern das Know-how hat, kann auch erfolgreich mit Externen zusammenarbeiten."Health Relations: Aber ich kann mir vorstellen, es hilft, HCPs zu einem möglichst frühen Zeitpunkt mit ins Boot zu holen, damit ein Zugang zu dieser Technologie besteht. Und eine Vorstellung von ihr. Was meinen Sie?Marion Legler: Ein Beispiel, das wir schon heute Ärzten als KI-gestützes Support-Tool für die Diagnostik anbieten, ist Calantic. Das KI-Tool ist in der Radiologie verortet. Wir arbeiten also bereits mit Lösungen, bei deren Entwicklung der User von Anfang an mit an Bord ist, damit er oder sie diese auch optimal nutzen kann. Health Relations: Mit welchen Partnern arbeiten Sie denn derzeit zusammen? Zum Beispiel im Bereich Large Language Models?Marion Legler: Wir haben eine gute Mischung aus erstklassiger interner Entwicklung und Zusammenarbeit mit externen Partnern. Ich glaube auch, dass es eines unserer Erfolgsmerkmale ist, genau diese Kombination zu haben. Denn nur jemand, der auch intern das Know-how hat, kann auch erfolgreich mit Externen zusammenarbeiten. Im Bereich der Künstlichen Intelligenz haben wir intern sehr starke Talente. Was uns zudem differenziert, ist, dass wir nicht nur gute Data Scientists haben, die effiziente Algorithmen entwickeln, sondern die diese auch wirklich in den geschäftlichen Alltag einbinden. Das heißt, wir haben nicht nur lauter Prototypen herumliegen, sondern die Algorithmen sind in die tagtäglichen Prozesse und entsprechend auch in der IT-Landschaft eingebettet. Und natürlich pflegen wir auch externe Kooperationen. Wir arbeiten mit Big Tech zusammen wie Google Cloud, und mit Start-ups und Universitäten. Health Relations: Das heißt, ihr Unternehmen und der Bereich, in dem Sie unterwegs sind, ist verortet im Gesamtgefüge. Mit welchen Abteilungen arbeiten Sie denn noch zusammen?Marion Legler:Maßgeblich für unseren Erfolg ist, dass wir Data Scientists mit unterschiedlichen Hintergründen haben. Wir haben Data Scientists, die einen biologischen, medizinischen Hintergrund haben, und Data Scientists, die einen IT-Hintergrund haben. Unsere Ambition ist es immer, genau diese unterschiedlichen Perspektiven zusammenzubringen. Das heißt, in jeder Entwicklung, in jedem digitalen Tool, das einen Algorithmus enthält, steckt eine Zusammenarbeit aus ganz unterschiedlichen Abteilungen. Health Relations: Kommen wir noch einmal auf die Language Language Models zurück, die unterschiedlich zum Einsatz kommen können. Wird das irgendwann ein eigenständiges Produkt, das Sie an den Arzt und die Ärztin vermarkten, sprich wird das eine Erweiterung Ihres Geschäftsmodells? Oder wo geht die Reise hin?Marion Legler:Ganz schwer zu sagen. Das ist eine unfassbare Entwicklung, die da stattgefunden hat, allein im letzten Jahr. Deswegen ist es immer sehr schwer zu sagen, wo die Reise hingeht. Dennoch würde ich sagen, mittel- bis langfristig wird das, was heutzutage an Künstlicher Intelligenz intern zur Effizienzsteigerung genutzt wird, auch verstärkt weiter nach außen gelangen, direkt ins Gesundheitssystem. Aber erst, wenn auch sichergestellt ist, dass dann beispielsweise kein Bias mehr hinter den Algorithmen steckt. Erst wenn auch wirklich alle Aspekte im Sinne des Datenschutzes, aber vor allem der Patientensicherheit berücksichtigt sind.
"Deshalb muss bei jeder Innovation klar sein, dass wir sie für das Richtige, für das Gute einsetzen. Es ist wesentlich, dass eine Patientin immer noch die Hoheit über ihre Daten hat."Health Relations: Aus Ihrer Erfahrungswelt heraus, würden Sie ihren Kollegen und Kolleginnen raten, bedächtig an das Thema AI heranzugehen? Ein bisschen mehr Ruhe in dieses Thema zu bringen? Oder haben wir doch einen zu hohen Zeitdruck, weil sich dieses Baby namens AI eben wahnsinnig schnell entwickelt. Marion Legler: Man muss einen kühlen Kopf bewahren, aber zu langsam, zu beobachtend darf man nicht sein, sonst verliert man schnell den Anschluss. Wir versuchen, am Puls der Zeit zu bleiben, alles auszutesten. Aber in einem sicheren Rahmen, beispielsweise mit einem Dummy-Datensatz, der frei verfügbar ist, wo also Patientensicherheit und Datenschutz nicht berührt sind. Health Relations: Welchen Impact hat die AI-Technologie, die sich gerade so rasant entwickelt, auf unser aller Gesundheit in Zukunft? Welche Chancen hat sie? Welche Risiken?Marion Legler: Der Impact ist unglaublich, wenn Sie in Richtung personalisierter Medizin schauen, vor allem aber auch in Richtung Prävention. Wie bei jeder derart bedeutenden Erfindung, gibt es natürlich auch bei KI Risiken. Deshalb muss bei jeder Innovation klar sein, dass wir sie für das Richtige, für das Gute einsetzen. Es ist wesentlich, dass eine Patientin immer noch die Hoheit über ihre Daten hat. Aber gleichzeitig sollten diese Daten auch für die Forschung zur Verfügung stehen. Das heißt, es ist ein Drahtseilakt. An dieser Abwägung werden wir alle uns noch ein bisschen die Zähne ausbeißen.