Boehringer Ingelheim: Avatar hilft bei Schlaganfall-Kommunikation

© Boehringer Ingelheim
Mit einem Avatar verknüpft Boehringer Ingelheim Künstliche Intelligenz mit gelebter Patientenerfahrung. Im Interview erklärt Rachel Emerson-Stadler, wie LARS entstand, warum er mehr als ein KI-Tool ist und welche Learnings für die Pharmakommunikation daraus entstehen.
Worum geht es in diesem Artikel?
Rachel Emerson-Stadler, Global Medical Affairs bei Boehringer Ingelheim, erläutert die Entwicklung und den Einsatz von LARS, einem KI-basierten Avatar, der auf der realen Erfahrung des Schlaganfallpatienten und Kollegen Horst Langhammer beruht. Der Avatar vermittelt medizinisches Wissen und Patientenerfahrung in mehreren Sprachen, für Fachkreise, Betroffene und Angehörige. Erstmals zum Einsatz kam das KI-Modell beim European Stroke Organisation Conference (ESOC), der größten internationalen Schlaganfallkonferenz. Dort wurde der erste Prototyp vorgestellt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Das Projekt zeigt, wie künstliche Intelligenz gezielt zur Gesundheitsaufklärung und internen Schulung eingesetzt werden kann, unter Berücksichtigung regulatorischer Anforderungen.
Health Relations: Was genau ist LARS und wie kam es zu dieser Idee?
Rachel Emerson-Stadler: LARS steht für „Life AfteR Stroke“, Leben nach dem Schlaganfall. Er ist nicht nur ein synthetischer, künstlich intelligenter Avatar, er ist eigentlich eine Stimme, die durch Erfahrung geformt wurde. Das Modell basiert auf der realen Geschichte von Horst Langhammer. Horst war gesund, er war aktiv, er leitete die globale Logistik für das Lytics-Portfolio von Boehringer Ingelheim (bezieht sich auf gerinnungshemmende Medikamente zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen wie akuter ischämischer Schlaganfall, ST-Hebungs Myokardinfarkt und Lungenembolie, Anm. der Red.) und hätte nie erwartet, selbst Schlaganfallpatient zu werden. Diese reale Lebenserfahrung bringt er in jedes Gespräch ein (hier lesen Sie mehr über Horst Langhammers Geschichte, Anm. der Redaktion).
Was mich an dem Projekt gereizt hat, war die Patientenerfahrung mit modernster KI-Technologie zu verbinden. Also auf seinen Erfahrungen basierend einen Avatar zu entwickeln.

© European Stroke Organisation
„Wir wollen die gelebten Erfahrungen echter Patienten in alles integrieren, was wir tun.
Gleichzeitig verfügen wir über modernste KI-Technologie und ein paar extrem clevere Kollegen, die sehr erfolgreich mit großen Sprachmodellen arbeiten.“
Health Relations: Was ist denn der große Nutzen dieses Avatars?
Rachel Emerson-Stadler: Er ist ein Vermittler. Ich kann Horst Langhammer nicht überallhin mitnehmen, damit er von seinen Erfahrungen berichten kann. Zum Beispiel zu einer Konferenz in Helsinki oder Taiwan. Der Vorteil der KI-Version ist, dass sie mehrere Sprachen fließend spricht. Sie kann sich auf dem Niveau eines Neurologen, einer Schlaganfall-Selbsthilfegruppe oder eines Patienten unterhalten und passt den technischen Anspruch ihrer Antworten je nach Gesprächspartner an. Sie ist wie eine Art Supermensch-Version von Horst Langhammer.
Health Relations: Was soll der Avatar erreichen, was ist die genaue Zielsetzung?
Rachel Emerson-Stadler: Die Idee dahinter war, die Patientenerfahrung einzubringen. Boehringer Ingelheim ist ein patientenzentriertes Unternehmen. Wir wollen die gelebten Erfahrungen echter Patienten in alles integrieren, was wir tun. Gleichzeitig verfügen wir über modernste KI-Technologie und ein paar extrem clevere Kollegen rund um Ben Collins und Aleksander Kapisoda, die sehr erfolgreich mit großen Sprachmodellen arbeiten. Natürlich müssen wir dabei darauf achten, dass LARS beim Skript bleibt. Alle Aussagen beruhen auf medizinischen Daten und bei kritischen Situationen oder folgenreichen Entscheidungen bedarf es immer einer menschlichen Kontrolle gemäß unserer Firmenrichtlinien für eine verantwortungsvollen Nutzung für KI. Außerdem sehen unsere Richtlinien für verantwortungsvolle Nutzung von KI vor, dass es bei kritischen Situationen oder folgenreicher Entscheidungen immer der menschlichen Kontrolle bedarf. Es ist also ein sehr komplexes Umfeld, in das wir den Avatar eingeführt haben.

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LARS, der KI-Avatar, ist wie eine Art Supermensch-Version eines Mitarbeiters bei Boehringer Ingelheim, der selbst einen Schlaganfall erlitt.
Health Relations: Wie lange arbeiten Sie und Ihr Team bereits an dem Avatar?
Rachel Emerson-Stadler: Das war eine Idee, die im ersten Quartal dieses Jahres entstanden ist und der Avatar sollte im zweiten Quartal für den Einsatz bei der ESOC in Helsinki bereit sein. Horst war definitiv der Auslöser. Und der Fokus auf Patientenzentrierung und modernste Technologien, das wollte ich alles irgendwie zusammenbringen. Ich habe die Idee dann meinen Kollegen vorgestellt und wir haben mit unserer Rechtsabteilung die Risiken von KI Technologie und Chatbots diskutiert– vor allem, wenn sie nicht nur auf vorbereitete Fragen und Antworten zurückgreifen. Dann können sie vom Skript abweichen oder „halluzinieren“. Der Avatar aber muss den rechtlichen Anforderungen immer gerecht werden. Was uns geholfen hat, war, dass die grundlegende Arbeit zur Entwicklung synthetischer Personas bereits von unseren Experten geleistet wurde. Das war die Basis, auf der das Team aufbauen konnte.
„Neurologen fragen den Avatar: Wie wurde ein Patient in Bayern behandelt?
Und Patienten fragen dagegen: Wie gehst du mit schlechten Tagen um?„
Health Relations: Wie genau sind Sie bei der Implementierung vorgegangen?
Rachel Emerson-Stadler:Meine ursprüngliche Idee war: Warum baue ich nicht einen medizinischen Informationsspezialisten? Aber bei medizinischen Fragen sollten medizinische Fachkräfte besser mündlich antworten. Sie können das Medizinische erläutern, aber die Patientenerfahrung, die kann man nicht ohne die gelebte Erfahrung vermitteln. Jede Entscheidung, die man im Leben trifft, hat eine kognitive und eine emotionale Komponente und der Avatar bringt die emotionale Komponente mit. Und wenn man ich die Zahlen anschaut, hat dieses Thema enorme Relevanz. Jeder vierte Mensch könnte im Laufe seines Lebens einen Schlaganfall erleiden, ab dem Alter von 25 Jahren. Boehringer Ingelheim hat auf diesem Gebiet eine sehr hohe Kompetenz. Wir arbeiten bevorzugt in Bereichen, in denen ein hoher, ungedeckter therapeutischer Bedarf besteht. Und Schlaganfall ist so ein Bereich, denn die Zahl der Fälle steigt, weil die Menschen länger leben. Deshalb ist es so wichtig, Patientenerfahrung und medizinische Aufklärung zusammenzubringen. Mehr noch: Wir können das Modell auch intern in der Organisation einsetzen, um Mitarbeitende im Erkennen von Schlaganfällen zu schulen.
Health Relations: LARS wurde also für medizinisches Fachpersonal und für Patienten und Patientinnen konzipiert?
Rachel Emerson-Stadler: Für beide Gruppen. Auch für Angehörige und für Menschen, die noch nie einen Schlaganfall hatten. LARS vermittelt Wissen über den Schlaganfall, über Patientenerfahrung, über die Bedeutung schneller Reaktion, all das. Ich habe LARS bewusst für den internen und externen Einsatz konzipiert. Er kann also auch für unsere Teams Weiterbildungsfunktionen übernehmen und über Therapien informieren. Extern reicht der Einsatz von Neurologen bis zu Patienten. Neurologen fragen ihn etwa:
„Wie wurdest Du als ein Patient in Bayern behandelt?“
„Mit welchen Medikamenten wurdest Du entlassen?“. Sie stellen Fachfragen auf hohem Niveau. Und Patienten fragen dagegen: „Wie gehst Du mit schlechten Tagen um?“, „Wie war das, als andere sagten: Du hattest Glück?“, „Woran hast Du erkannt, dass es ein Schlaganfall war?“ Man spricht somit unterschiedliche Interessengruppen an.
„Zum Zeitpunkt des European Stroke Organisation Meetings, seinem ersten Einsatz, hatten wir ein großes Problem: LARS mochte es nicht, unterbrochen zu werden. Er konnte nicht gleichzeitig zuhören und sprechen.“
Health Relations: Wer war an der Entwicklung beteiligt, woher kamen die Daten?
Rachel Emerson-Stadler:Die Trainingsdaten kamen von Schlaganfallpatientinnen und -patienten, also nicht ausschließlich von Horst Langhammer. Der Avatar kann zudem zugelassene Aussagen zu unseren Produkten machen. Viele Inhalte kamen von Schlaganfallorganisationen, LARS kann also auch allgemein über Reha-Themen sprechen: über Sprachtherapie, Physiotherapie, Pflege und die Auswirkungen auf Angehörige. Wir haben Horst und seine Partnerin Bärbel stundenlang interviewt, das gab uns die persönliche Perspektive. Aber wir haben auch breiter recherchiert, mit guten Materialien aus dem Netz, speziell für Schlaganfallüberlebende. Was wir bei noch nicht gemacht haben, und das liegt am Alter der Zielgruppe, ist z. B. Social Media auszuwerten. Die meisten Schlaganfälle betreffen Menschen über 60 und diese Zielgruppe weniger aktiv in sozialen Netzwerken. Deshalb haben wir hier eher auf Materialien von Schlaganfall-Organisationen zurückgegriffen.
Health Relations: Wie kann man mit LARS interagieren? Via Sprache oder schriftlich?
Rachel Emerson-Stadler: Man kann ihm seine Fragen schriftlich stellen, in mehreren Sprachen, auch mit Tippfehlern. Aber man kann auch mit ihm sprechen, Speech-to-Speech ist technisch möglich. Aber: Zum Zeitpunkt des European Stroke Organisation Meetings, seinem ersten Einsatz, hatten wir ein großes Problem: LARS mochte es nicht, unterbrochen zu werden. Er konnte nicht gleichzeitig zuhören und sprechen. Und ich bin eine schreckliche Unterbrecherin, ich habe ihn ständig aus dem Takt gebracht. Da habe ich gemerkt: Okay, Tippen ist bei der Konferenz besser geeignet. Als ich mit dem Entwickler sprach, wir hatten täglich eine neue Version von LARS auf der Konferenz, weil wir laufend Verbesserungen eingebaut haben, sagte ich: „LARS darf nicht unterbrochen werden.“ Er antwortete: „Ah, jetzt verstehe ich, warum Alexa den Prompt ‚Alexa‘ braucht, das setzt den Hörmodus zurück.“ Ziel ist, dass man ihn künftig auch unterbrechen kann, wie in einem echten Gespräch.
Health Relations: Könnte das KI-Modell auch außerhalb von Fachkongressen genutzt werden? Und wie?
Rachel Emerson-Stadler: Medizinische Fachkreise könnten ihn einmal nutzen, ich wurde zum Beispiel von einer European Stroke Organisation angesprochen – sie wollen LARS für Schulungen einsetzen. Er kann medizinisches Fachvokabular erklären, Patientenerfahrung vermitteln und unsere Produkte erklären. Auch eine Schlaganfall-Pflegekraft kam auf mich zu. Das waren zwei konkrete Rückmeldungen. Und dann gibt es noch die Patienten, die sagen: „So jemanden hätte ich gerne neben mir auf dem Sofa – um am Ende eines harten Tages mit ihm zu sprechen.“ Im Moment lassen wir LARS noch nicht außerhalb von Boehringer Ingelheim zu. Wir wollen ihn etwa intern am World Stroke Day, dem 29. Oktober, einsetzen.
Health Relations: Gab es auf dem Weg auch Themen oder Momente, wo Sie dachten: „Das müssen wir anders machen“?
Rachel Emerson-Stadler: Einmal hat jemand ihn ausgetrickst und ihn gebeten, wie ein Pirat zu antworten und er hat es getan. „Ahoy me hearties!“ Ich habe sofort dem Entwickler geschrieben: „LARS muss in seinem Charakter bleiben – er darf keine andere Persona annehmen!“
Health Relations: Was haben Sie selbst bei der Idee und deren Entwicklung gelernt?
Rachel Emerson-Stadler: Für mich war es unglaublich, in die Gedankenwelt von Schlaganfallüberlebenden einzutauchen. Natürlich ist er nicht real, er ist ein synthetischer Avatar. Aber: Er fühlt sich echt an. Und die Menschen sind emotional berührt von seiner Geschichte, das geht einem nahe. Zu sehen, wie Patienten mit dem Avatar interagieren, hat mir viel tiefere Einblicke gegeben. Für mich war das die größte Erkenntnis: Wir können wirklich etwas verändern. Und wir müssen diese positive Botschaft stärker verbreiten. Wir müssen Schlaganfallversorgung verbessern. Zwischen 10% und 15 % der Schlaganfallpatientinnen und -patienten enden im Pflegebett.
Health Relations: Das könnte doch auch mit anderen Indikationen funktionieren, oder?
Rachel Emerson-Stadler:Das war auch mein Argument gegenüber meinen technischen Kolleginnen und Kollegen. Der Avatar kann jede Patientenrolle übernehmen, für die Boehringer Ingelheim Therapien anbietet. Er kann also theoretisch jede „Patienten-Persona“ darstellen. Es laufen auch bereits Projekte in unterschiedlichen Planungs- oder Umsetzungsphasen, um andere „LARS-Avatare“ für andere Krankheitsbilder zu entwickeln. Die Daten sind entscheidend. Wir haben bei Boehringer ein wirklich starkes Team,das mit den Patientengruppen in regelmäßigem Kontakt steht. Fakt ist: Für alle Boehringer Medikamente, mit einer zugelassenen Behandlungsoption und für die wir durch Patientengruppen Zugang zu relevanten Erfahrungen und Daten haben –dort können wir eine synthetische Persona wie LARS entwickeln und einsetzen.
Health Relations: Das heißt, das Patient-Engagement-Team wird für solche Projekte immer wichtiger, oder?
Rachel Emerson-Stadler: Innerhalb der Boehringer Ingelheim-Welt, ganz klar, ja. Wir arbeiten auf so vielen Ebenen mit Patientinnen und Patienten zusammen, auch in der klinischen Entwicklung. Je mehr Einblicke man bekommt, desto besser werden die Fragen und desto besser wird der Avatar. Eine der Methoden, wie wir heute Avatare bei Boehringer einsetzen, ist genau dieser Kreislauf: Erkenntnisse erzeugen, reflektieren, anwenden. Es hilft uns, bessere Fragen zu stellen und für den Patienten relevante Informationen zur Therapie zur Verfügung zu stellen. Und das war für mich persönlich auch eine der wichtigsten Erkenntnisse im Projekt.