eHealth-Interview: Ist Deutschland ein Digital-Zwerg?
In Deutschland stagniert die eHealth-Entwicklung. Das jedenfalls sagt Flying-Health-Gründer Dr. Markus Müschenich in unserem Interview.
In Deutschland stagniert die eHealth-Entwicklung. Das jedenfalls sagt Flying-Health-Gründer Dr. Markus Müschenich. Das Unternehmen unterstützt Start-ups beim Markteintritt, schafft Synergien und Kooperation.
Dr. med. Markus Müschenich ist Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Flying Health Incubators. Das Unternehmen bietet Digital-Health-Start-ups ein exklusives Umfeld, um digitale Diagnose- und Therapieanwendungen zur Marktreife zu bringen. Digitale Anwendungen, so Müschenich, haben großes Potential. Doch sie haben auch Risiken.Die deutsche Politik hat bis auf Lippenbekenntnisse noch keinen relevanten Mehrwert für den patienten- bzw. nutzerorientierten Einstieg unseres Gesundheitswesens in die Digitalisierung geliefert.Health Relations: Sie haben schon 2012 im Deutschen Ärzteblatt prophezeit, dass Facebook und Google in den Healthcare-Markt einsteigen werden. Und dass Deutschland, wenn Politik und Selbstverwaltung nicht schnell handeln würden, an Reputation verlieren würde. Wie beurteilen Sie die Entwicklung heute? Wie steht es in diesem Land um das Thema eHealth?Dr. Markus Müschenich: An meiner Einschätzung hat sich nichts geändert. Der Gesundheitsmarkt wird von den großen Tech-Companies heute sogar noch strategisch intelligenter und aktiver angegangen. Apple und Google sind die ersten Unternehmen ihrer Art, die die neuen Zulassungskriterien der FDA (Food and Drug Administration, USA, Anm. der Red.) für Digital Health Applications und Devices anwenden dürfen. Die deutsche Politik und Selbstverwaltung hat bis auf Lippenbekenntnisse noch keinen relevanten Mehrwert für den patienten- bzw. nutzerorientierten Einstieg unseres Gesundheitswesens in die Digitalisierung geliefert. Health Relations: Aber es gibt erste Pilotversuche im Bereich eHealth. Zum Beispiel in Baden-Württemberg – Stichwort Telemedizin und Fernbehandlung. Für Sie nicht ausreichend?Dr. Markus Müschenich: Fakt ist: Die Politik hat einfach nichts geleistet. In den Konzepten kommt der Patient auch so gut wie gar nicht vor. Ja, die Online-Sprechstunde ist eingeführt worden in den EBM. Sie wird allerdings als normales Gespräch bewertet und abgerechnet. Dabei ist das nicht dasselbe, da kann ich als Arzt viel mehr machen – von der Untersuchung der Haut bis zur Echtzeitbewertung von EKGs! Das ist für mich der Beweis: Man hat es nicht verstanden. Health Relations: Worin ist diese Lähmung in der eHealth-Entwicklung, die Sie da beschreiben, begründet?Ärzte verdienen das meiste an banalen Dingen. Banale Dinge können durch eHealth perfekt ersetzt werden.Dr. Markus Müschenich: Die Ärzteschaft spürt, dass sie nicht so gut und so günstig arbeiten kann wie die Telemedizin. Ärzte verdienen das meiste an banalen Dingen. Nicht, weil die Ärzte es wollen, sondern weil die Vergütungssystematik ist, wie sie ist. Banale Dinge können durch eHealth perfekt ersetzt werden. Es ist also eine Verhinderungstaktik. Und Sie haben Angst davor. Weil Sie nicht alles verstehen. Aber das ist nun mal ihre Aufgabe. Health Relations: Sie sind Mitbegründer der Beteiligungsgesellschaft Flying Health, die sich auf die Vernetzung von eHealth-Start-ups mit Unternehmen spezialisiert. 2016 haben Sie zusätzlich den Flying Health Incubator initiiert. Was genau ist das Ziel dieser Gesellschaft?Dr. Markus Müschenich: Flying Health hat den Flying Health Incubator gegründet mit genau der Absicht, Start-ups mit Unternehmen aus der Gesundheitswirtschaft und der Industrie zusammenzubringen und so die Entwicklung digitaler Produkte und Services sowie den Markteintritt zu beschleunigen. Dazu haben wir zum einen ein 24-monatiges Curriculum für die Start-ups entwickelt, das alle notwendigen Kenntnisse für einen erfolgreichen Markteintritt vermittelt. Gleichzeitig gehen wir aktiv mit den Start-ups den Weg in den Gesundheitsmarkt. Der Flying Health Incubator bietet systemrelevanten Unternehmen der Gesundheitswirtschaft ein Partnerprogramm an, das von der gemeinsamen Entwicklung ihrer individuellen Digitalstrategie über Pilotprojekte mit Start-ups bis zur Möglichkeit der Entsendung von Mitarbeitern in den Incubator reicht. So kommen beide Welten zusammen und können erfolgreich voneinander lernen. Health Relations: Das ist die Theorie. Und die Praxis? Wie sind denn Ihre Erfahrungen?Dr. Markus Müschenich: Das Modell des Flying Health Incubators ist aus mehreren Gründen erfolgreich. Zum einen ist unser Programm deutlich länger als bei anderen Incubatoren. Nur so können Start-ups die wirklich relevanten Dinge lernen, die notwendig sind, um in einen derart komplexen Markt wie den Gesundheitsmarkt einzutreten. Ein weiterer Erfolgsfaktor sind unsere Partner, die nicht nur zu den wichtigsten Unternehmen der Gesundheitswirtschaft gehören, sondern darüber hinaus für Pilotprojekte zur Verfügung stehen. Sind die Piloten erfolgreich, kommt es zum Rollout im gesamten Unternehmen. Mit den Sana Klinken haben wir sechs Piloten auf den Weg gebracht, und nun stehen die ersten Rollouts an. Zu den Start-ups, die wir begleiten, gehören unter anderem ARYA, Patientus, OneLife/Femisphere, happymed (aus deren Presskit unser Titelbild stammt, Anm. d. Red.), heartbeat medical, mySugr und neotiv. [Über die meisten dieser Start-ups haben wir hier schon mal berichtet.]Health Relations: Wenn internationale Konzerne wie beispielsweise Audi einsteigen: Kommt da die Qualität der medizinischen Versorgung nicht langfristig unter die Räder?Dr. Markus Müschenich: Qualität und der Wunsch, Geld zu verdienen, sind gerade in der digitalen Welt kein Gegensatz. Nirgendwo können Sie so gut und transparent die Ergebnisqualität und den Patientennutzen messen. Gerade in einem Wettbewerb, an dem sich immer mehr international agierende Unternehmen beteiligen, die zudem nicht unbedingt aus dem klassischen Gesundheitswesen kommen, ist die Verbindung von Qualität und Geld im positivsten Sinn entscheidend. Health Relations: Betrachten wir die Entwicklung im Internet-Handel, regieren inzwischen wenige große Anbieter wie Amazon und Co. das Geschäft. Plattform-Bildung ist einer der Trends. Das hat Einfluss auf den freien Wettbewerb. Sehen Sie eine ähnliche Trendbewegung auch für den Healthcare-Markt?Dr. Markus Müschenich: Modelle wie Amazon, Google, Uber und andere werden auch die Modelle der Zukunft der Gesundheitsversorgung sein. Damit hier nichts aus dem Ruder läuft, müssen sich rechtzeitig Politik und Selbstverwaltung, aber auch jeder einzelne Arzt, kompetent mit der Entwicklung beschäftigen und gegebenenfalls auch tatkräftig einmischen.Health Relations: Was heißt das: Aus dem Ruder laufen?Dr. Markus Müschenich: Es geht um Patienten, nicht um Kunden! Und alle müssen weiterhin das gleiche Anrecht auf eine Behandlung haben. Was zum Beispiel, wenn aufgrund der gesammelten Daten des Patienten die Schuldfrage transparent wird, und der Verdacht digital untermauert wird, dass Mann oder Frau Übergewicht und die daraus folgende Krankheit selbst verschuldet hat. Bleibt unser Gesundheitswesen dann noch solidarisch, oder wird der Ruf laut, dass für Übergewichtige teurere Tarife gelten sollen? Ein Ruf, der nicht etwa nur von Krankenkassen kommen kann, sondern von denen, die schon heute gegen Minderheiten hetzen. Health Relations: Abschließend: Was sind, zusammengefasst, die Risiken von eHealth – und was müssen wir Ihrer Meinung nach tun, um diese weitestgehend zu minimieren?Banal gesagt: Die Krankenkassen und alle Akteure müssen sich an einen Tisch setzen und den Weg ebnen, bevor andere das Sagen haben.Dr. Markus Müschenich: Banal gesagt: Die Krankenkassen und alle Akteure müssen sich an einen Tisch setzen und den Weg ebnen, bevor andere das Sagen haben. Die größte Gefahr ist es, sich nicht mit der Digitalisierung zu beschäftigen und es zu versäumen, hier Kompetenzen aufzubauen. Gleichzeitig müssen wir uns von unserer Arroganz befreien. Seien wir ehrlich: Deutschland ist ein Digital-Zwerg, der sich aufführt wie ein Riese. Warum der Kompetenzaufbau zum Beispiel in der Ärzteschaft nicht wirklich erfolgt, ist mir unverständlich, und ich halte dies für den größten Fehler der Selbstverwaltung, der sich in den nächsten Jahren sicher rächen wird. Dr. med. Markus Müschenich ist Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafterdes Flying Health Incubators. Neben zahlreichen Mitgliedschaften inwissenschaftlichen Beiräten ist er Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin.