Susanne van der Beck, IQVIA: „Adipositas braucht ein Reframing“

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Wie gelingt es, ein sensibles Gesundheitsthema aus der Lifestyle-Ecke in die ärztliche Versorgung zu überführen? Susanne van der Beck, Senior Director Commercial bei IQVIA, zeigt im Interview, warum das Reframing von Adipositas wichtig für Akzeptanz und Erstattung ist. Für das Pharmamarketing ergeben sich daraus neue Anforderungen.
Worum geht es in diesem Interview?
Das Interview mit Susanne van der Beck, Senior Director bei IQVIA, beleuchtet zentrale Entwicklungen im Adipositasmarkt. Im Fokus stehen das Reframing der Indikation, die Positionierung von GLP-1-Präparaten jenseits des Lifestyle-Narrativs. Zentrale Herausforderung ist es, Adipositas als chronische Erkrankung in der ärztlichen Versorgung zu verankern. Thematisiert werden im Interview differenzierte Ansätze im Pharmamarketing und -vertrieb, die Bedeutung neuer ärztlicher Zielgruppen wie Adiposiologen, die Rolle digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) in der Therapiebegleitung sowie Trends wie Longevity. Auch Kommunikationsstrategien im Außendienst und die Wahrnehmung durch Social Media werden diskutiert.
Health Relations: Laut einem aktuellen Marktüberblick von IQVIA haben GLP-1-Präparate zuletzt ein außergewöhnlich starkes Wachstum erzielt. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Susanne van der Beck: Das Wachstum sehen wir nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit mehreren Jahren. Ein wesentlicher Treiber waren die Studien, die 2023 veröffentlicht wurden. Sie haben gezeigt, dass diese Produkte nicht nur bei der Gewichtsreduktion, sondern auch bei anderen Erkrankungen, etwa kardiovaskulären, positive Effekte haben. Ein zusätzlicher Schub im ersten Halbjahr kam unter anderem durch eine rückwirkende, regulatorisch bedingte, Preisanpassung bei einem der Produkte zustande. Dadurch stieg der Umsatz besonders stark, auch wenn das nicht mit einer Volumensteigerung gleichzusetzen ist. Insgesamt aber beobachten wir eine kontinuierlich wachsende Nutzung dieser Produkte, weltweit und auch in Deutschland.
Health Relations: Welches Potenzial sehen Sie langfristig in diesem Markt?
Susanne van der Beck: Der Adipositasmarkt zählt zu den dynamischsten, die wir in den letzten Jahren gesehen haben. Es sind derzeit über 180 Wirkstoffe in der Pipeline, in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Und das betrifft nicht nur Adipositas an sich, sondern auch Komorbiditäten wie Alzheimer, Fettleber oder kardiovaskuläre Erkrankungen. Wir schätzen den globalen Markt aktuell auf rund 135 Milliarden US-Dollar. Und das Potenzial ist noch längst nicht ausgeschöpft. Durch den erwarteten Patentablauf einer der führenden Substanzen in Ländern wie Indien, China und Brasilien, erwarten wir mittelfristig Preisveränderungen und den Markteintritt von Generika. Und parallel dazu sehen wir neue Darreichungsformen, etwa orale Varianten oder sogar Patches. All das senkt die Einstiegshürden für Patientinnen und Patienten. Wenn Produkte günstiger werden, könnten sie auch selbst bezahlt werden. Das ist für viele eine niedrigere Schwelle. Gleichzeitig könnte es dazu führen, dass GLP-1-Präparate in immer mehr Ländern in die Erstattung aufgenommen werden.
„Ärztinnen und Ärzte sprechen nicht von ‚Abnehmspritze‘. Sie behandeln Patientinnen und Patienten ganzheitlich, mit ärztlicher Begleitung, Ernährungsberatung und gegebenenfalls App-Unterstützung.“
Health Relations: Was verhindert aktuell die Erstattung in Deutschland?
Susanne van der Beck: Das Hauptproblem ist, dass Adipositas zwar als chronische Erkrankung mittlerweile medizinisch anerkannt ist, gesetzlich die GLP-1 Präparate aber unter den Paragraph §34 SGB V fallen, durch den Medikamente zur Gewichtsreduktion nicht erstattungsfähig durch die Kassen sind. Solange dies so ist, dürfen also Krankenkassen die Behandlung mit GLP-1-Präparaten nicht unterstützen und die Patienten müssen selbst zahlen. Der §34 SGB V wird auch „Lifestyle-Paragraf“ genannt. Er existiert schon sehr lange und listet unter anderem Themen wie Raucherentwöhnung, Haarausfall und eben Übergewicht auf. Doch international, etwa von der WHO, ist Adipositas längst als chronische Krankheit anerkannt. Derzeit herrscht bei den gesetzlichen Krankenversicherungen eher Zurückhaltung. Sie warten auf eine klare Entscheidung des Gesetzgebers.
Health Relations: Wer sind aktuell eigentlich die typischen Patienten in der Adipositastherapie?
Susanne van der Beck:Derzeit sehen wir bei den Verordnungen einen etwas höheren Anteil an Frauen, obwohl die Adipositasprävalenz bei Männern und Frauen insgesamt relativ gleich verteilt ist. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass Frauen häufig gesundheitsbewusster sind und eher medizinische Angebote in Anspruch nehmen. Was die Altersstruktur betrifft, liegt der Schwerpunkt bei den 41- bis 60-Jährigen. Diese Gruppe macht etwa die Hälfte der Verordnungen aus.
„Aus meiner Sicht wäre es sehr sinnvoll, wenn Pharmaunternehmen enger mit DiGA-Anbietern kooperieren würden, um hier eine Brücke zu bauen, auch in Bezug auf den Außendienst.“
Health Relations:Inwiefern spielt die öffentliche Aufmerksamkeit, etwa durch Prominente oder Social Media, bei der Nachfrage nach Adipositastherapien eine Rolle? Und wie wirkt sich das auf das Arzt-Patienten-Gespräch aus?
Susanne van der Beck: Social Media trägt deutlich zur gestiegenen Aufmerksamkeit für Adipositastherapien bei, insbesondere in den USA und UK, aber zunehmend auch in Deutschland. Plattformen wie TikTok erreichen hier inzwischen ein großes Publikum. Diese mediale Präsenz beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung und wirkt sich auf das Arzt-Patienten-Gespräch aus. Ärztinnen und Ärzte sehen sich mit sehr unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert, je nachdem, ob Patientinnen und Patienten vor allem über das Thema Gewichtsreduktion oder über chronische Begleiterkrankungen informiert wurden.
Wir analysieren auch, welche Themen im Außendienst zwischen Ärzten und Pharmafirmen besprochen werden. Auch hier verwenden Ärzte und Vertreter sehr unterschiedliche Begriffe, je nach Indikation und Patientengruppe. Das zeigt, wie wichtig eine saubere Kommunikation und Positionierung ist, im Arztgespräch und in der öffentlichen Wahrnehmung.
Health Relations: Der Begriff „Abnehmspritze“ hat sich medial stark durchgesetzt. Ist das aus Ihrer Sicht problematisch?
Susanne van der Beck:Absolut. Der Begriff „Abnehmspritze“ mag zwar mediale Aufmerksamkeit erzeugen, ist aber aus medizinischer Sicht irreführend. Wenn wir eine nachhaltige Anerkennung und Erstattung erreichen wollen, müssen wir uns vom kommerziellen Image lösen. Es geht nicht nur um Gewichtsreduktion, sondern um die Behandlung einer chronischen Erkrankung mit all ihren Begleiterkrankungen. Ärztinnen und Ärzte sprechen nicht von „Abnehmspritze“, sondern behandeln Patientinnen und Patienten ganzheitlich, mit ärztlicher Begleitung, Ernährungsberatung und Unterstützung durch Apps. Wir sehen außerdem, dass sich die Kommunikation zunehmend in Richtung medizinische Relevanz und ganzheitliche Versorgung verschiebt. Dabei liegt der Fokus auf kardiovaskulärer Risikosenkung, langfristigen Gesundheitszielen und Patienten-Compliance.
„Spannend ist, dass es nun auch Adiposiologen mit Zusatzweiterbildung gibt, das sind derzeit etwa 400 in Deutschland. Für den Außendienst ist das eine ganz zentrale Zielgruppe.“
Health Relations: Sie haben gerade die App-Unterstützung angesprochen. Welche Rolle spielen digitale Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA, aktuell in der Adipositastherapie?
Susanne van der Beck: Es gibt in Deutschland derzeit zwei zugelassene DiGA zur Behandlung von Adipositas. Diese Anwendungen kombinieren digitale Begleitung mit psychologischer Therapie, Coaching und Ernährungsberatung. Also durchaus ein umfassender Ansatz. Aber: Die Vermarktung bei Ärztinnen und Ärzten fehlt oft. Die DiGA-Hersteller haben meist keinen Außendienst. Das ist auch ein Punkt, den viele Ärzte kritisch sehen. Patienten kommen mit dem Wunsch nach einer Verordnung in die Praxis, ohne dass der Arzt vorher eingebunden war. Oder sie erhalten direkt von der App Informationen und müssen sich das Rezept selbst organisieren. Das führt zu einer gewissen Irritation. Aus meiner Sicht wäre es sehr sinnvoll, wenn Pharmaunternehmen enger mit DiGA-Anbietern kooperieren würden, um hier eine Brücke zu bauen, auch in Bezug auf den Außendienst.
„Es braucht ein konsequentes Reframing: Weg vom Lifestyle-Produkt, hin zur medizinischen Behandlung einer ernstzunehmenden chronischen Erkrankung. Gleichzeitig müssen wir stärker die gesamte Patient Journey adressieren.“
Health Relations: Wie verändert sich in diesem Zusammenhang die Kommunikation im Außendienst?
Susanne van der Beck:Die Kommunikationsstrategien müssen sich anpassen, nicht nur thematisch, sondern auch kanalbezogen. Im Bereich Adipositas sind inzwischen deutlich mehr Kanäle relevant: Telemedizin, Online-Apotheken, Versandhandel. Das muss im Channel Mix berücksichtigt werden. Zudem verändert sich die Arztlandschaft: Es gibt mehr Ärztinnen und jüngere Zielgruppen mit anderen Informationsgewohnheiten, z. B. onlinebasiert. Auch das muss bei Targeting und Segmentierung bedacht werden. Spannend ist außerdem, dass es nun auch Adiposiologen mit Zusatzweiterbildung gibt, das sind derzeit etwa 400 in Deutschland. Für den Außendienst ist das eine ganz zentrale Zielgruppe. Seitens IQVIA können wir an all diesen Stellen unterstützen, etwa bei der Entwicklung und Umsetzung zielgruppengerechter Kampagnen, beim Aufbau eines klaren Narrativs und natürlich auch beim Tracking: Was funktioniert auf welchem Kanal? Welche Inhalte performen? Und wie können zum Beispiel digitale Kontaktpunkte sinnvoll mit dem Außendienst verzahnt werden?
Health Relations: Stichwort „Patient Journey“, wie wichtig ist die Langfristigkeit der Therapie?
Susanne van der Beck: Sehr wichtig. Wenn die Therapie nur kurzfristig, etwa für die „Bikinifigur“, eingesetzt wird, sehen wir oft, dass Patientinnen und Patienten sie wieder absetzen. Die Persistenz fällt sehr schnell ab, besonders bei Selbstzahlenden ohne ärztliche Begleitung. Die langfristige Begleitung ist also entscheidend. Es geht darum, den Patienten in seiner chronischen Erkrankung ganzheitlich zu betreuen, auch mithilfe von digitalen Angeboten, Ernährungsberatung und medizinischer Kontrolle. In der Schweiz beispielsweise wird eines der Produkte für drei Jahre erstattet, mit dem Ziel, in dieser Zeit eine nachhaltige Veränderung zu erzielen.
„Bei Ärztinnen und Ärzten ist der Begriff ‚Longevity‘ bislang noch nicht stark verankert, auch wenn das dahinterliegende Konzept, also ein möglichst gesundes Altern, natürlich längst Teil ihrer Arbeit ist.“
Health Relations:Ein Begriff, der zunehmend auch in Marketing und medizinischen Diskussionen auftaucht, ist „Longevity“. Gemeint ist damit nicht nur ein langes, sondern auch ein möglichst gesundes Leben. Welche Rolle spielt dieses Konzept in der Adipositastherapie, insbesondere aus ärztlicher Sicht?
Susanne van der Beck: „Longevity“ ist ein Thema, das stark von gesundheitsbewussten Menschen getrieben wird. Viele informieren sich selbst intensiv, verfolgen Entwicklungen und interessieren sich auch für Präventionsstrategien, ob rezeptpflichtig oder OTC. Bei Ärztinnen und Ärzten ist dieser Begriff bislang noch nicht stark verankert, auch wenn das dahinterliegende Konzept, also eine möglichst lange Lebensspanne in Gesundheit, natürlich längst Teil ihrer Arbeit ist.
Health Relations: Was muss sich aus Marketingsicht noch verändern, damit Adipositas-Therapien nachhaltiger in der Versorgung ankommen?
Susanne van der Beck:Es braucht ein konsequentes Reframing: Weg vom Lifestyle-Produkt, hin zur medizinischen Behandlung einer ernstzunehmenden chronischen Erkrankung. Gleichzeitig müssen wir stärker die gesamte „Patient Journey“ adressieren. Dazu gehören nicht nur das Produkt, sondern auch Begleitmaßnahmen, wie die bereits genannten Apps, psychologische Beratung, Ernährungshilfen oder langfristige Erhaltungstherapien. Das ist ein komplexer, aber auch spannender Markt, weil RX- und OTC-Komponenten hier zusammenkommen. Die Kommunikation muss diese Vielschichtigkeit abbilden.
Über die Expertin
Susanne van der Beck ist Senior Director und Head of Payer, Provider and Government (PPG) bei IQVIA. Sie verantwortet in dieser Position die strategische Beratung der Akteure im Spannungsfeld der Krankenkassen, Therapiehersteller und Regierungsbehörden. Susanne besetzte verschiedene leitende Positionen bei IQVIA und kann auf eine 28 Jahre lange Karriere im Gesundheitswesen zurückgreifen. Sie ist Mathematikerin und hat einen B.A. Abschluss in Medical Data Science und einen MBA in Healthcare Management.