Medizin 4.0 – wir entscheiden jetzt über unsere Zukunft!

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Zum Abschluss der ceres-Ringvorlesung in Köln ging es noch einmal um etwas sehr Grundsätzliches: Unsere Haltung gegenüber einer stetig voranschreitenden Digitalisierung in der Medizin.

Zu Beginn der ceres Ringvorlesung, die in diesem Wintersemester jeden Mittwoch an der Uni Köln stattfand und die Digitalisierung in der Medizin thematisierte, stellte Dr. Dr.-Ing. Matthias Reumann, Mitglied des Züricher Forscherteams IBM Research, einige Entwicklungen aus dem IBM-Maschinenraum vor. So sprach er über neuronale Netzwerke, die der Ärzteschaft bei der Bildinterpretation schon heute eine große Hilfe seien. In der digitalen Pathologie könnte man dank informationstechnischer Systeme etwa Diagnosen präzisieren. Hat der Tumor beim Prostatakrebs eine gewisse Größe, vergibt der Pathologe einen bestimmten Gleason-Score. Der Mediziner urteilt nach bestem Wissen, aber eben auch nach Gemütszustand. So hätte ein Pathologe, der mit IBM Zürich zusammenarbeitet, ganz offen zugegeben: „Montagmorgens, wenn ich ausgeruht bin, gebe ich einen bestimmten Score und freitagnachmittags, wenn ich achtzig Stunden gearbeitet habe, kann der Score bei dem gleichen Befund abweichen.“ Hat der Tumor eine kritische Größe, dann entscheidet die Einschätzung des Pathologen über eine operative Entfernung der Prostata. Neuronale Netzwerke, so Reumann, könnten hier Grenzen identifizieren und dem Arzt bei der Entscheidungsfindung helfen.

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Nach ihren Vorträgen stellten sich Dr. Dr. Reumann (links) und Prof. Dr. Manzeschke den Fragen der Zuhörer.

Wissensgraphen helfen bei der Diagnosefindung

Spannend war auch Neumanns Darstellung über IT-basierte Diagnosefindung, die über datengestützte Wissensgraphen erfolgt. Bei Wissensgraphen werden Informationen aus Publikationen vieler verschiedener Länder mit gängigen Diagnoseschlüsseln, wie etwa dem ICD-10, verknüpft. Der behandelnde Arzt kann dann anhand von Ausschlusskriterien – wie Symptomen, dem Krankheitsverlauf oder der Wirkung von Medikamenten – Krankheitsbilder immer weiter einkreisen. Am Schluss bleiben nur noch 10 bis 15 mögliche Krankheiten übrig. Ärzte können damit viel Zeit sparen, denn sie müssen nicht mehr in aktuellen Fachpublikationen nach möglichen Krankheitsbildern recherchieren. Auch dem bekannten deutschen Arzt für seltene Erkrankungen Prof. Dr. Jürgen Schäfer, alias Dr. House, der am Zentrum für unerkannte Krankheiten der Universität Marburg tätig ist, helfen Wissensgraphen bei seiner Diagnosefindung.

Der Mensch als Kurator

„Der Computer wird das Denken nicht ersetzen. Algorithmen sind ein Werkzeug, um Infos zu gewinnen“Trotz all dieser Technikpower glaubt Reumann nicht, dass Ärzte von ihr beherrscht werden. Big Data könne nur so big sein, wie die Qualität der Daten hoch ist. Beim Wissensgraphen wurde beispielsweise einmal die USA den „Diseases“ zugeordnet, weil eine Datenbank oder ein Algorithmus falsch war. Solche Fehler entstehen durch eine verminderte Datenqualität. Aber auch die richtige Analyse und Verknüpfung von Daten sei wichtig, um kontextualisiertes Wissen zu generieren. Es gehe dabei längst nicht mehr um das bloße Sammeln von Daten – tatsächlich zähle die kluge Auswahl, die vom Menschen getroffen werde. „Der Computer wird das Denken nicht ersetzen. Algorithmen sind ein Werkzeug, um Infos zu gewinnen“, so Reumanns konstruktiv-optimistische Haltung gegenüber einer digitalisierten Medizin.

Verantwortung muss neu definiert werden

Sehr interessant war es danach, dem Vortrag von Prof. Dr. theol. habil. Arne Manzeschke zuzuhören, der aus einer vollkommenen anderen Ecke kommt und eine konstruktiv-kritische Haltung gegenüber Big Data einnahm. Er ist Professor für Anthropologie und Ethik für Gesundheitsberufe an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg und hat nach seinem Studium der Theologie und Philosophie als Pfarrer einer evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern gearbeitet. Je mehr Daten eine Technik stützen, so Manzeschke, desto schwieriger sei es zu definieren, ob die Technik uns bestimmt oder wir die Technik. Beispielhaft ging er hier auf das Da Vinci-Operationssystem ein, mit dem minimalinvasive Operationen im urologischen und gynäkologischen Bereich durchgeführt werden. Das Da Vinci-System verfüge auch über teilautonome Systeme, wie etwa Biopsieroboter, und sogar über autonome Systeme, z.B. Fräsmaschinen, die über Wissenssysteme gesteuert werden. Bei einer Operation ist der Arzt hier nicht mehr der alleinige Akteur; er agiert kooperativ mit einem technischen System. Weil das System über eine vielfache Menge an Informationen verfügt, wird es für den behandelnden Arzt zunehmend schwer, sich der Empfehlung des Systems zu entziehen. Fakt sei, dass die digital basierte Kooperation von Mensch und Maschine zu einer effektiven Verbesserung im Gesundheitswesen führe. Dennoch stelle sich bei einer immer autonomer agierenden Technik die Frage: Wer ist Herr und wer ist Knecht?

Ärzte des US-amerikanischen Christian Hospital sprechen hier über die Vorteile des Da Vinci Robotersystems. 

„Ich will Sie beunruhigen!“

Auch die Rolle des Arztes ändere sich, so Manzeschke. Die Medizininformatiker, die bislang eher Datenaufbereiter sind und eine Zuarbeiterrolle ausfüllen, könnten aufgrund ihrer Analysefähigkeit zukünftig eine ebenso wichtige Rolle wie der Arzt einnehmen. Der Arzt solle sich hier aber nicht als Opfer begreifen, sondern unsere digitalisierte Zukunft offensiv mitgestalten. Diese Forderung stellt Manzeschke an alle Bürger. Wenn ein solidarisches Gesundheitssystem zu einem datengestützten Gesundheitssystem werde, dann könnte dies Folgen für die individuelle Freiheit haben. Er erinnerte an den dystopischen Roman „Corpus Delicti“ der Schriftstellerin Juli Zeh, in dem das Bild eines gläsernen Patienten gezeichnet wird. Seien Sie achtsam, so die Warnung, sonst wird die datengestützte Gesundheitsdiktatur aus dem Roman zu unserer Realität.

Bilder: ©Lukas Hoffmann
Beitragsbild: ©tiero/stock.adobe.com

 

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