Health Literacy: Kann KI zur Gesundheitskompetenz beitragen?

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© fotogestoeber / Adobe Stock
Ein Projekt an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg testet den Einsatz von KI in Assistenzsystemen, um Nutzer:innen individuelle, situationsbezogene Gesundheitsempfehlungen zu geben – und die Health Literacy zu verbessern.

„Gesundheit wird immer dann erst ernst genommen, wenn sie gefährdet ist“, sagt Prof. Dr. Oliver Amft. Er ist Lehrstuhlinhaber für Digital Health an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg (FAU) und koordiniert ein Projekt, das genau hier ansetzt. Zusammen mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, der Universität Duisburg-Essen, der BODYMED AG und der Interactive Wear AG entwickelt der Forscher ein lernendes Assistenzsystem, das auf Künstlicher Intelligenz (KI) basiert. Gefördert wird es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 1,8 Millionen Euro für eine Laufzeit von drei Jahren. Es soll seinen Anwender:innen Empfehlungen für ein gesünderes Leben geben, individuell, situativ, im Alltag – und damit deren Gesundheitskompetenz stärken.

Wie misst man die Gesundheitskompetenz?
Um die Gesundheitskompetenz einer Person zu bestimmen, wird untersucht, wie leicht oder schwer ihr diese vier Schritte der Beschaffung gesundheitsrelevanter Informationen fallen: Informationen  finden – Informationen  verstehen – Informationen  beurteilen – Informationen anwenden.

Health Literacy: Es besteht Handlungsbedarf

Warum ist dieses Projekt so spannend? Zum einen besteht Handlungsbedarf. Denn um die Gesundheitskompetenz in Deutschland ist es schlecht bestellt. Laut der „Zweiten Health Literacy Survey Germany“ (HLS-GER 2) des Interdisziplinären Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) an der Universität Bielefeld ist über ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland in Sachen Gesundheitsinformation schlecht aufgestellt. Auffällig ist, dass die Gesundheitskompetenz stark vom Bildungsgrad abzuhängen scheint. So haben 50,8 Prozent der Menschen mit einem hohen Bildungsniveau eine hohe Gesundheitskompetenz. Bei Personen mit mittlerem Bildungsniveau liegt dieser Anteil bei 40,3 Prozent und bei Menschen mit niedriger Bildung lediglich bei 21,7 Prozent. Betrachten wir die Gruppe der chronisch Erkrankten, verfügen nur 24,9 Prozent über eine exzellente oder ausreichende Health Literacy. Heißt, gerade in dieser Zielgruppe hat nur rund jeder oder jede Vierte das Vermögen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und korrekt anzuwenden. Die Folge kann eine mangelhafte Adhärenz sein, weil medizinische Empfehlungen nicht oder kaum befolgt werden, was sich wiederum negativ auf den Therapieverlauf auswirken kann.

Die Studie: Health Literacy Survey Germany
Das Interdisziplinäre Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) an der Universität Bielefeld hatte 2014 in einer repräsentativen Stichprobe von 2000 Bürgerinnen und Bürgern im Alter ab 15 Jahren in Deutschland gefragt, ob sie Informationen zum Thema Gesundheit im weitesten Sinne finden, verstehen, qualitativ beurteilen und auch anwenden können. Diese Studie war die erste deutschlandweite, repräsentative Face-to-Face Befragung mit detaillierten Daten zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Mehr als die Hälfte der befragten Personen, nämlich 54,3 Prozent, gaben an, Schwierigkeiten im Umgang mit gesundheitsbezogener Information zu haben.  Die Studie ist Teil des „WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL)“ der WHO Europa.

Die Gesundheitskompetenz beschäftigt auch Pharma

Eine mangelhafte Gesundheitskompetenz  hat Einfluss auf die Lebensqualität, auf die Gesundheit des oder der Einzelnen. Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz sind oftmals weniger aktiv, ernähren sich laut Studie ungesünder als Befragte mit einer hohen Gesundheitskompetenz. Sie ist sowohl im Bereich der Prävention oder auch in der Therapietreue elementar.

Damit spielt das Wissen um die Gesundheit seitens des oder der Patient:in auch für Pharmaunternehmen eine immer größere Rolle. Denn längst drehen sich deren Geschäftsmodelle nicht mehr nur um die Herstellung von Medikamenten. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, gesund zu werden, sondern auch darum, gesund zu bleiben. Es geht um bestmögliches Disease Management, gerade auch mit Blick auf die Gruppe der chronisch Kranken.

Eine erweiterte Gesundheitskompetenz – mithilfe der KI

 Prof. Dr. Oliver Amft über Health Literacy und KI
Prof. Dr. Oliver Amft ist Lehrstuhlinhaber für Digital Health an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg (FAU).

Zurück zu Prof. Dr. Oliver Amft und seinem Verbundprojekt – und der Idee intelligente Systeme unterstützend einzubinden. Das macht die Sache besonders spannend, denn KI oder auch AI tragen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz durchaus großes Potenzial in sich. Weil sie selbstlernend sind oder auch Kompliziertes gut übersetzen können. Intelligente Technologien können ein Weg sein, niederschwellig Gesundheitswissen zu vermitteln, zugeschnitten auf die jeweilige Zielgruppe. Richard Saynor, CEO bei Sandoz, verwies 2019 in einem Beitrag auf dem Online-Portal „Pharma Boardroom“ auf den hohen Nutzen von AI für die Gesundheitskompetenz. Wenn es um Gesundheitskompetenz gehe, sei Sprache eine Hauptbarriere. AI könne dazu beitragen, diese zu durchbrechen, weil sie Prozesse visualisieren und besser erklären könne. Zum Beispiel, warum es nicht hilft, beim Vergessen einer Medikamenteneinnahme im Anschluss die doppelte Dosis einzunehmen.

Prof. Dr. Oliver Amft und sein Team setzen auf Künstliche Intelligenz und personalisierte, situative Verhaltensempfehlungen, die das Assistenzsystem „Eghi“ seinen Anwender:innen gibt. Im Alltag, genau dann, wenn sie gebraucht werden. Ein Beispiel: Eine Nutzerin fährt mit der Straßenbahn zu einem Termin. „Eghi“ merkt während der Fahrt, dass das Wetter schön ist und noch ausreichend Zeit bis zum Termin verbleibt. Also fragt es die Nutzerin, ob sie eine Station früher aussteigen und laufen möchte. „Ein Ansatz unserer Arbeit ist es, erfolgreiche, persönliche Alltagsstrategien aus Interaktions- und Sensordaten vieler Personen anonymisiert zusammenzutragen, um die jeweils für die oder den Einzelnen bzw. Einzelne passende Empfehlung anzubieten. Unsere Vision ist eine erweiterte Gesundheitskompetenz, indem die KI den Mensch im Alltag unterstützt“, sagt Oliver Amft und ergänzt: „Optimal vorbereitet können Computeralgorithmen die vielfältigen und umfangreichen Informationen in unserem Alltag besser verdichten als Menschen.“

Unterstützung, keine Kontrolle

Medizinische Wearables, zum Beispiel Smartwatches oder Apps, könnten dieses aktuell nicht im gleichen Maße leisten. „Wenn die Smartwatch oder App im Restaurant daran erinnert, mehr Schritte zu machen, ist das kontraproduktiv. Es geht uns darum, in einem passenden Moment Handlungsalternativen aufzuzeigen: Solche, die im weiteren Verlauf eher negativ sind und solche, die zu besserer Gesundheit führen.“ „Eghi“ agiert also als eine Art persönlicher Berater, angetrieben von einem digitalen Zwilling des persönlichen Verhaltens, der Handlungsoptionen abschätzt. Das Assistenzsystem kann laut Amft in allen Altersklassen wirken und sowohl in der Therapie als auch in der Prävention zum Einsatz kommen. „Gesundheitskompetenz ist ganz generell wichtig, nur die Art der Unterstützung eines Assistenzsystems muss sich anpassen, von persönlicher Optimierung über Risikovermeidung bis zum alltäglichen Umgang mit chronischen Erkrankungen. Unsere Forschung findet daher auch in unterschiedlichen Personengruppen statt, mit dem Ziel, die Möglichkeiten zur Personalisierung von KI-basierter Unterstützung der Gesundheitskompetenz zu untersuchen und geeignete digitale Verhaltensmodelle zu entwickeln und zu testen.“  Er fügt hinzu: „Wir entwickeln eine intelligente Assistenz für gesunde Ernährung, Bewegung im Alltag oder Unterstützung im Alter – keine Kontrolle.“

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