Peter Schardt, Siemens Healthineers: „Als Komplettlösung ist der Digital Twin noch ein visionäres Konzept“

91
Porträtfoto eines lachenden Mannes im weißen Hemd.
Digital Twin als Komplettlösung? Noch ist das eine Vision. © Siemens Healthineers
In Zukunft möchte sich die Healthcare-Branche nicht nur auf die Behandlung von Erkrankungen fokussieren, sondern auch auf deren Prävention. Der Digital Twin könnte eine zentrale Rolle spielen und Teil einer individuellen Patient Journey sein. Wie kann das funktionieren?

Peter Schardt, seit 2018 CTO bei Siemens Healthineers, ist sich sicher: Mit einem Digital Twin und mithilfe von künstlicher Intelligenz kann eine Therapiebehandlung von der ersten bis zur geplanten letzten Behandlung simuliert werden. Mehr noch: Risikopatient:innen, beispielsweise für Darmkrebs, können zu einem frühen Zeitpunkt identifiziert und präventiv ärztlich begleitet werden. Auf der Health 2023, der Jahrestagung des Handelsblatts in Berlin, präsentierte Peter Schardt eine Patient Journey, die genau das abbildet. Sie  beginnt schon vor einer eventuellen Erkrankung, um genau diese zu verhindern. Basis der Patientenreise ist ein Digitaler Zwilling. Vision oder Wirklichkeit? Auch das haben wir Peter Schardt gefragt.

„Der Zugang zu strukturierten, hochwertigen Gesundheitsdaten ist ein Schlüsselfaktor für Forschung und Entwicklung.“

Health Relations: Herr Schardt, Risikopatient:innen, die vor einer Diagnose eine Patientenreise beginnen, müssen bereit sein, sich überhaupt mit dem Thema auseinanderzusetzen. Erkrankungen sind aber oftmals kein Thema, mit dem man sich freiwillig gerne beschäftigen mag. Was können alle Beteiligten dazu beitragen, den Shift hin zur Prävention positiv aufzuladen? 

Peter Schardt: Insgesamt hat sich das Interesse an und das Auseinandersetzen mit der eigenen Gesundheit verstärkt. Heute sind Patient:innen oft einfach besser informiert. Aber natürlich müssen solcherlei Angebote auch bekannt sein. Hier können Ärzt:innen eine wichtige Rolle spielen, da sie den direkten Draht zu den Patient:innen haben und diese auf ihrer Gesundheitsreise begleiten. Es geht darum, Patientinnen und Patienten die künftigen Möglichkeiten von einer solchen Art der Prävention begreiflich zu machen – von der früheren Diagnose bis hin zur personalisierten Behandlung.

Health Relations: Es braucht also ein positives Narrativ, das auf dem wachsenden Bewusstsein für Gesundheit aufsattelt. Die Gesundheitsreise und der Digital Twin funktionieren aber nur mit einer belastbaren Datengrundlage, nämlich die der Patientinnen und Patienten. Das ist die Basis. Die geben nicht alle gerne frei.

Peter Schardt: Sie müssen sicher sein können, dass ihre Daten nur für den vorgesehenen Zweck genutzt werden und sicher sind. Wir müssen Verständnis schaffen, warum die Daten gebraucht werden und wie sie nützen. Gesunde Menschen haben dabei öfter Vorbehalte als solche, die krank sind und davon profitieren könnten, dass Ärzte ihren Krankheitsverlauf mit Daten vergleichbarer Patient:innen abgleichen können und so eine möglichst präzise und wirkungsvolle Behandlung wählen können. Dabei kann ich nicht genug betonen: Die Ausschöpfung des vollen Potenzials der Präzisionsmedizin und der umfangreichen Früherkennung von Krankheiten hängt von den Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft ab. Der Zugang zu strukturierten, hochwertigen Gesundheitsdaten ist ein Schlüsselfaktor für Forschung und Entwicklung in Unternehmen wie Siemens Healthineers. Wir brauchen einen geregelten Rahmen für den Zugang zu und den Austausch von strukturierten, qualitativ hochwertigen Gesundheitsdaten, um die digitale Transformation von Gesundheit und Medizin voranzutreiben.

„Als Komplettlösung ist der Digital Twin noch ein visionäres Konzept, das man vom Prinzip her aus der Industrie kennt.“

Health Relations: Ärzt:innen sind nach wie vor Vertrauenspersonen, wenn es um Gesundheit geht. Sie erwähnten es bereits. Wie können Unternehmen wie Siemens Healthineers und Pharmaunternehmen diese gezielt in diese Entwicklung einbinden? 

Peter Schardt: Für uns ist klar, dass wir nicht mit dem Ziel innovieren und entwickeln, Ärzt:innen ersetzbar zu machen oder durch KI abzulösen. Vielmehr geht es uns darum, das Klinikpersonal zu unterstützen und zu entlasten. Denn der Fachkräftemangel ist ein weltweites Problem, für das wir Lösungen brauchen. Wir haben weltweit ein sehr großes Netzwerk von klinischen Kollaborationspartnern, über 4000, mit denen wir stets im Austausch stehen und so auch die Herausforderungen kennen, die es zu lösen gilt. Ich glaube fest daran, dass Ärztinnen und Ärzte das letzte Wort haben werden, wenn es um die Entscheidungen für individuelle Patient:innen geht. Aber es ist doch noch ein langer Weg dorthin, dass sich Ärzt:innen eben nur auf solche Entscheidungen konzentrieren können. Viele Prozesse auf dem Weg dorthin kann ihnen kluge KI-Entwicklung abnehmen. Egal, ob es um die Erstellung von Arztbriefen oder Berichten geht oder darum, ein zweites (künstliches) Paar Augen für die Befundung von Tumoren zu entwickeln. Meine Erwartung ist, dass es eine Kombination aus KI-basierten Diensten und menschlicher Korrektur geben wird.

Health Relations: OK. Ist das, was auf der Health 2023 gezeigt worden ist, der Digital Twin, Vision oder ein Stück weit schon Wirklichkeit?

Peter Schardt: Unsere Vision ist es, dass jede/r einen Digitalen Zwilling hat, einen Digitalen Gesundheitszwilling, wenn Sie es so möchten, mit dem Ziel, früher und präziser behandelt werden zu können. Als Komplettlösung ist der Digital Twin noch ein visionäres Konzept, das man vom Prinzip her aus der Industrie kennt. Dort werden beispielsweise Industrieanlagen zunächst virtuell simuliert, bevor man sie baut – so kann man Probleme bereits am Modell erkennen, bevor sie an der realen Anlage auftreten. Die Idee hinter einem Patientenzwilling ist ähnlich: Anhand einer Menge von Daten, sowohl der Patient:innen selbst als auch solchen aus Populationsstudien, wollen wir es ermöglichen, dass Krankheiten an der virtuellen „Kopie“ schon erkannt werden können, bevor reale Patient:innen Symptome verspüren.

Health Relations: Über Daten sprachen wir schon. Umreißen sie doch einmal, welche Daten der Digital Twin benötigt.

Peter Schardt: Klar ist, dass wir dieses Konzept als Anbieter nicht alleine schultern können, die dafür benötigten Daten kommen aus verschiedensten Quellen: Neben Daten aus der medizinischen Bildgebung und dem Labor können die Vitalparameter sein, die über eine Smartwatch gesammelt werden; wichtig ist auch das Thema Medikation. All diese individuellen Gesundheitsinformationen werden in Echtzeit miteinander verknüpft und fortwährend mit Ergebnissen aus Populationsstudien, Daten spezifischer Krankheitsbilder sowie individuellen Krankheitsverläufen, Medikationen, Diagnostiken oder Therapien anderer Betroffener abgeglichen. Unter Berücksichtigung von medizinischen Evidenzen, gepaart mit klinischen Leitlinien und gesundheitsökonomischer Aspekte ermöglichen sie ein ganzheitliches, individuelles, übergreifendes Vorsorge- oder Behandlungsregime. Neben dieser Datenintegration ist eine weitere wichtige Voraussetzung die Existenz einer zentralen Stelle, an der die Daten gesammelt werden, daher ist die Elektronische Patientenakte hier ein wichtiger Baustein.

„Die Menge und die Qualität der Daten, die für Training und Validierung verwendet werden, sind von entscheidender Bedeutung.“

Health Relations: Wo stehen wir denn auf der Reise hin zum Digital Twin als Teil der Patient Journey?

Peter Schardt: Es gibt bereits digitale Zwillinge einzelner Organe, an denen wir arbeiten, etwa Herz und Leber. Hier geht es darum, Therapien vorab zu simulieren und die präziseste individuelle Behandlung zu identifizieren. Überdies arbeiten wir an Prototypen, die im Bereich der Strahlentherapie bei Lebertumoren schon vorab dank der vorliegenden Patientendaten vorhersagen können, ob sie auf eine Therapie ansprechen oder nicht. So können Behandelnde Übertherapieren vermeiden und alternative, wirksame Therapien auswählen.

Generell gilt: Die Menge und die Qualität der Daten, die für Training und Validierung verwendet werden, sind von entscheidender Bedeutung. Denn je größer die Menge an Qualitätsdaten, desto besser und präziser arbeitet das Rechenmodell. Sicher ist der digitale Patientenzwilling eine langfristige Vision, deren Umsetzung in der klinischen Anwendung noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Das heißt aber nicht, dass wir abwarten sollen. Vielmehr ist es wichtig, die Voraussetzungen in den Krankenhäusern schon heute zu schaffen, und kontinuierlich die jeweils verfügbaren Teillösungen zu implementieren.

Health Relations: Welche Learnings haben Sie von der Health 2023 mitgenommen?

Peter Schardt: Ich schätze den wertvollen Austausch sehr, den die Veranstaltung ermöglicht hat und hoffe, dass die Diskussionen Dinge in Gang bringen: Wir müssen uns Fragen nach Datenschutz und Datennutzen stellen. Wir wissen, dass KI eine zentrale Rolle spielen kann und wird, wenn es darum geht, Gesundheitssysteme weltweit zugänglicher, nachhaltiger, effizienter und effektiver zu machen, beispielsweise durch die Automatisierung bestimmter Prozesse. Aber diese Resilienz ist nur möglich, wenn wir KI-Entwicklung fördern, indem die Nutzung von strukturierten, qualitativ hochwertigen Gesundheitsdaten für die industrielle Forschung und Entwicklung ermöglicht wird.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein