Disease Interception – weg vom Reparaturbetrieb

588
Dr. Christoph Bug, Mitglied der Geschäftsfürhung bei Janssen Deutschland. ©Janssen Cilag GmbH
Dr. Christoph Bug, ist Medizinischer Direktor und Mitglied der Geschäftsführung bei Janssen Deutschland. ©Janssen Cilag GmbH
Krankheiten erkennen und behandeln, bevor sie ausbrechen? Die Idee von Disease Interception ist faszinierend. Doch das Konzept wird kontrovers diskutiert. Janssen Deutschland fördert die Debatte der verschiedenen Akteure im Gesundheitssystem über die Chancen und Herausforderungen von Disease Interception. Dr. Christoph Bug ist Medizinischer Direktor und Mitglied der Geschäftsführung. Er sagt: „Wir sehen uns in der Rolle eines aktiven Mitgestalters des Gesundheitssystems.“

Health Relations: Warum bedeutet Disease Interception einen Paradigmenwechsel für das Gesundheitssystem?

Dr. Christoph Bug:  Nach heutigem Verständnis gilt ein Mensch als krank, wenn er Symptome einer Erkrankung aufweist. Der Arzt stellt eine Diagnose und verordnet eine Therapie. Aus der Forschung wissen wir jedoch, dass zwischen dem Beginn des Krankheitsprozesses und dem Auftreten erster Symptome teilweise Jahre vergehen können – beispielsweise bei vielen Krebserkrankungen und bei der Alzheimer-Demenz. Mit Disease Interception sehen wir die realistische Chance, diese Erkrankungen in Zukunft zu erkennen und aufzuhalten, bevor die ersten Symptome entstehen. Der Ansatz stellt die Erhaltung der Gesundheit in den Vordergrund, anstatt abzuwarten, bis eine Erkrankung ausbricht – um dann erst zu behandeln. Das wirkt sich unmittelbar aus auf die Rollen und Verantwortlichkeiten der handelnden Akteure: Die Rolle der Ärzte beispielsweise würde sich vom Behandler zum Berater der Patienten wandeln. Statt wie heute Erkrankungen anhand von Symptomen zu diagnostizieren, würden sie individuelle Erkrankungsrisiken prognostizieren und Erkrankungsprozesse mithilfe von Biomarkern frühzeitig erkennen und zielgerichtet dagegen intervenieren.

Health Relations: Welchen Mehrwert bietet das fürs Gesundheitssystem?

Dr. Christoph Bug: Abgesehen von dem individuellen Wert, den es für die Betroffenen hat, weiter am Leben teilhaben zu können, profitiert natürlich auch die Solidargemeinschaft davon, wenn die Erkrankung nicht ausbricht, der Betroffene weiter arbeiten kann und keine jahrelange Therapie benötigt.

„Wir sehen mit Disease Interception für die Zukunft die realistische Chance, diese Erkrankungen zu erkennen und aufzuhalten, bevor die ersten Symptome entstehen.“

Health Relations: Was bedeutet das für potenziell Betroffene?

Dr. Christoph Bug: Wir alle als potenziell Betroffene müssten mehr Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen und entscheiden, ab welchem Erkrankungsrisiko wir informiert werden möchten. Wir müssen festlegen, wer überhaupt entscheidet, ab welchem Erkrankungsrisiko interveniert werden soll. Auch den Umgang mit dem individuellen Recht auf Nichtwissen müssen wir als Gesellschaft verbindlich regeln. Wie sollen Ärzte und Krankenkassen beispielsweise damit umgehen, wenn ein Versicherter von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch macht und später erkrankt?

Health Relations: Stößt Disease Interception bei Patienten auf Interesse und Akzeptanz?

Dr. Christoph Bug: Aus zahlreichen Gesprächen wissen wir, dass viele Menschen dem Prinzip der Disease Interception offen gegenüberstehen. Und auch Vertreter von Zulassungsbehörden, Krankenkassen und Politik sehen neben den Herausforderungen auch die Chancen – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für unser Gesundheitssystem als Ganzes. Disease Interception hat das Potenzial, unser Gesundheitssystem grundlegend zu verändern – weg vom Reparaturbetrieb, in dem Krankheiten behandelt werden, hin zur Erhaltung unserer Gesundheit.

Health Relations: Bei welchen Krankheitsbildern oder Forschungsfeldern wird Disease Interception künftig besonderen Einfluss haben?

Dr. Christoph Bug: Vielversprechend scheint Disease Interception bei Krankheiten, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und die nach ihrem Ausbruch in der Regel nicht mehr heilbar sind. Denn: Selbst, wenn wir heute schon immer früher und individueller diagnostizieren und therapieren können, kommen wir – zumindest bei progressiven Erkrankungen – immer noch zu spät. Der Tumor hat sich gebildet oder, wie im Fall der Alzheimer Demenz, das Gehirn ist bereits irreversibel geschädigt.

Disease Interception funktioniert in drei wesentlichen Schritten. ©Janssen Cilag GmbH
Die drei Elemente von Disease Interception. © Janssen Deutschland

Health Relations: Mit welchem Forschungsfeld beschäftigt sich Janssen diesbezüglich gerade?

Dr. Christoph Bug: Wir suchen zum Beispiel in der Hämato-Onkologie nach Ansätzen, um den Übergang von einer schwelenden Knochenmarkserkrankung, dem sogenannten Smoldering Myelom, zum behandlungsbedürftigen Multiplen Myelom zu verhindern. In der Alzheimer-Forschung arbeiten wir daran, die Biomarker besser zu verstehen, um das demenzielle Syndrom mit neuen Therapieoptionen hinauszuzögern. Und bei Typ 1 Diabetes wollen wir möglichst früh Hinweise auf eine Krankheitsentwicklung finden, um beispielsweise durch eine Immuntherapie intervenieren zu können.

Health Relations: Seit etwa zwei Jahren sprechen Sie über Disease Interception, obwohl noch keine Therapie in diesem Bereich zugelassen ist. Warum?

Dr. Christoph Bug: Unser Ziel ist, dass Patienten von Disease Interception profitieren können, wenn die ersten Therapien auf dem Markt sind. Und dafür müssen wir noch Antworten auf einige sehr relevante Fragen finden. Deshalb haben wir die Debatte zu den Chancen und Herausforderungen von Disease Interception angestoßen. Seither haben wir mit vielen Akteuren des Gesundheitswesens gesprochen: mit Patientenvertretern, Ethikern, Medizinern, Versorgungsforschern, Gesundheitsökonomen, Vertretern von Zulassungsbehörden, Krankenkassen und natürlich der Politik.

„Disease Interception hat das Potenzial, unser Gesundheitssystem grundlegend zu verändern – weg vom Reparaturbetrieb, in dem Krankheiten behandelt werden, hin zur Erhaltung unserer Gesundheit.“

Health Relations: Wie beurteilen Sie die Debatte?

Dr. Christoph Bug: Die Diskussion ist durchaus kontrovers. Viele unserer Gesprächspartner erkennen jedoch das Potenzial von Disease Interception, unser krankheitsbezogenes Versorgungssystem zu transformieren und endlich die Gesundheit in den Fokus zu rücken. Eine wichtige Erkenntnis aus der intensiven Diskussion beim diesjährigen Janssen Open House war außerdem: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Wenn wir das Konzept der Disease Interception in die Versorgungsrealität überführen wollen, müssen wir die Wünsche, Bedürfnisse, Sorgen und Vorbehalte der Menschen anhören und berücksichtigen.

Health Relations: Was muss geschehen, um das Gesundheitssystem fit für Disease Interception zu machen?

Dr. Christoph Bug: Zunächst einmal wird es darum gehen, nachzuweisen, dass eine Therapie im Sinne von Disease Interception die Erkrankung verlässlich unterbindet oder ihren Ausbruch um Jahre nach hinten verzögert. Die prädiktive Aussagekraft der genutzten Biomarker wird dabei ebenso eine Rolle spielen wie die Frage, welches Studiendesign zum Nachweis der Wirksamkeit der Therapie geeignet ist und welche Paramater für eine Nutzenbewertung in Betracht kommen. In der Präzisionsmedizin ist die Durchführung klassischer Phase III-Studien (RCTs) mit mehreren hundert Patienten schon heute oft nicht möglich, da wir es mit kleinen Patientengruppen und spezifischen Subtypen zu tun haben. Auch für Disease Interception passen unsere heutigen Standards nicht: Angenommen, wir identifizieren einen Biomarker, der auf ein hohes Erkrankungsrisiko innerhalb der nächste 15 bis 20 Jahre hinweist, und angenommen, es gäbe eine Therapie, mit der sich der Krankheitsprozess gezielt unterbrechen ließe: Klassische RCTs wären in dieser Situation kaum finanzierbar und außerdem zu langwierig. Zudem wäre es ethisch kaum vertretbar, Hochrisikopatienten jahrzehntelang in einer Placebo-Gruppe zu beobachten, ohne etwas gegen die drohende Erkrankung zu unternehmen. Klar ist: Klinische Forschung braucht hohe wissenschaftliche und methodische Standards. RCTs werden auch weiterhin der Goldstandard bleiben. Um zu verhindern, dass Innovationen wie Disease Interception durch überholte Methoden ausgebremst werden, müssen wir genau diese Methoden aber weiterentwickeln.

Health Relations: Wie soll mit den Kosten für Disease Interception umgegangen werden?

Dr. Christoph Bug: Die Frage der Erstattung ist eine wesentliche, die es frühzeitig zu diskutieren gilt. Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz haben wir uns in Deutschland für einen wert-basierten Ansatz entschieden. Ein solcher Ansatz fordert von einer Gesellschaft, zu definieren, wie hoch der Wert ist, den sie bestimmten Gesundheitsaspekten beimisst, um im Anschluss die Preisgestaltung konsequent danach auszurichten. Genau das müssen wir im Hinblick auf Disease Interception leisten. Wir müssen gemeinsam definieren, was uns die Erhaltung unserer Gesundheit wert ist – welchen individuellen Wert es für die Betroffenen hat, weiter am Leben teilhaben zu können, und inwieweit die Solidargemeinschaft davon profitiert, wenn eine Erkrankung nicht ausbricht, der Betroffene weiter arbeiten kann und keine jahrelange Therapie benötigt.

Health Relations: Decken die Algorithmen der Kostenträger das denn ab?

Dr. Christoph Bug: Im derzeitigen System ist der langfristige Nutzen weniger relevant als die Kosten, die im aktuellen Jahr anfallen. Damit Patienten perspektivisch Zugang zu innovativen Therapien im Sinne von Disease Interception erhalten, sind Modelle wie Risk Share oder andere innovative Vertragsmodelle gefragt.

„Wir sind längst nicht mehr einfach nur ein Entwickler und Hersteller von Medikamenten. Wir sehen uns in der Rolle eines aktiven Mitgestalters des Gesundheitssystems.“

Health Relations: Auch für Janssen bedeutet Disease Interception einen Paradigmenwechsel.

Dr. Christoph Bug: Absolut. Deshalb fördern wir den Diskurs zu Disease Interception in Deutschland seit rund zwei Jahren und treiben auch unsere internationale Forschung in diesem Bereich voran. Wir sehen in Disease Interception die Chance, unser Gesundheitssystem grundlegend im Interesse der Patienten zu verändern.

Health Relations: Was bedeutet das für die Zukunft und Arbeitsweise des Unternehmens?

Dr. Christoph Bug: Wir sehen uns in der Rolle eines aktiven Mitgestalters des Gesundheitssystems. Doch um dies im Interesse der Patienten grundlegend zu verändern, müssen alle Akteure des Gesundheitssystems zusammenarbeiten. Nur so wird es uns gelingen, den Zugang zu innovativen Therapien für alle zu ermöglichen, die sie benötigen.


"Disease Inerception" beleuchtet das Thema von verschiedenen Seiten. ©Janssen Cilag GmbH
© Janssen Cilag

INFO: Ein aktuelles Wissens- und Stimmungsbild bietet das von Janssen unterstützte Buch „Disease Interception – Implikationen einer frühen Diagnose und Krankheitsunterbrechung für Medizin und Gesellschaft“, in dem zahlreiche Experten – darunter Patientenvertreter, Ärzte, Medizinethiker, Gesundheitsökonomen, Big-Data-Spezialisten und Politiker – die Chancen und Herausforderungen von Disease Interception aus ihrer jeweiligen Perspektive bewerten.

Mehr zum Thema: Gesundheitssystem von morgen: Janssen & Disease Interception

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein