- warum der Forschungsstandort Deutschland gefährdet ist
- welche Bedingungen Pharma für Forschung braucht
- wie die Digitalisierung die Forschung unterstützen kann
- welche Folgen ein unattraktiver Forschungsstandort Deutschland hat
- wie sich das auf die Markteinführung von Medikamenten auswirkt
- wie sich dadurch das Marketing verändert
Health Relations: Immer mehr Pharmaunternehmen ziehen sich aus Deutschland zurück. Warum ist der Forschungsstandort Deutschland gefährdet?
Matthias Wernicke: Deutschland ist traditionell ein starker Forschungsstandort für die Pharmaindustrie, doch verschiedene Faktoren gefährden diesen Status, und man muss konstatieren: Seit Jahren sinken die Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die Gründe dafür sind vielfach, aber eine der Hauptherausforderungen sind zahlreiche bürokratische Hürden. Wir haben in Deutschland 17 Datenschutzkommissionen und 52 Ethikkommissionen – das führt zu langen Abstimmungsschleifen zum Beispiel für jede klinische Studie, die in Deutschland aufgesetzt wird. Das Ergebnis: Wir sind bei klinischen Studien im internationalen Vergleich immer weiter abgerutscht, aktuell auf Platz 6. Vor Jahren waren wir noch auf Platz 2.
Health Relations: Was braucht Pharma, um hier forschen zu können?
Matthias Wernicke: In Deutschland ist vieles gut geeignet, um erfolgreich forschen zu können: Wir haben – noch – eine starke pharmazeutisch-chemische Industrie-Basis, eine gute Infrastruktur, gute Ausbildung mit Top-Talenten, und natürlich ein stabiles regulatorisches Umfeld, wenn auch mit viel Bürokratie. Was man zusätzlich nicht unterschätzen darf: Die Offenheit auf politischer Ebene für Innovation, für neue Medikamente, das Gesamtklima, welches pharmazeutischen Errungenschaften entgegengebracht wird, ist extrem wichtig. Und leider sehen wir das in Deutschland eher sehr gering ausgeprägt.
„Deutschland ist traditionell ein starker Forschungsstandort für die Pharmaindustrie, doch verschiedene Faktoren gefährden diesen Status.“
Health Relations: Was braucht Pharma, um rund um die erforschten, neu- und weiterentwickelten Medikamente gute Business-Modelle entwickeln zu können?
Matthias Wernicke: Heilung von Krankheiten ist ein weltweiter Auftrag an uns als Industrie, und wir agieren weltweit, um diesem Ziel Schritt für Schritt näherzukommen. Wenn wir allerdings über die deutschen Rahmenbedingungen für gute, stabile, und langfristig planbare Geschäftsentwicklung sprechen, dann geht es vor allem um eine faire Anerkennung von innovativen Produkten auch im GKV-System, und diese Anerkennung muss sich letztlich in einem fairen Preis widerspiegeln. Leider ist das für viele Produkte in Deutschland sehr schwer geworden. Und leider muss man sagen, dass das vor allem genau für die Produkte gilt, die in hochspezifischen Indikationen mit kleinen Patientenzahlen entwickelt werden. Denn gerade hier greift das sehr rigide Bewertungssystem für die GKV-Preissetzung, und führt zu Preisen, die den Forschungs- und Entwicklungsaufwand des Medikaments nicht kompensieren, sodass eine Vermarktung in Deutschland dann unmöglich wird.
Health Relations: Die Digitalisierung ist auch für Pharma ein wichtiger Faktor, um forschen und um digitale Innovationen entwickeln zu können. Wo steht Deutschland in diesem Bereich?
Matthias Wernicke: Die Digitalisierung ist natürlich ein extrem wichtiger Faktor für die Zukunft der Pharmaindustrie. Bereits heute setzen zahlreiche unserer Forschungsprogramme auf Big Data Modellen auf, die es uns ermöglichen, bestimmte biologische Prozesse in silicio zu modellieren, bevor sie im Labor validiert werden.
„Ich befürchte, dass sich die Nicht-Markteinführungen in Deutschland häufen werden.“
Für die Zukunft wäre es wünschenswert, wenn auch sogenannte „Real World Daten“ – also Daten aus der realen Gesundheitsversorgung – stärker, natürlich vollständig anonymisiert, so strukturiert erfasst werden, dass sie auch eine Grundlage für die Entwicklung neuer Medikamenten sein können, oder zur Evaluierung von existierenden Medikamenten besser herangezogen werden können. Leider steckt aber die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen noch in den Kinderschuhen.
Health Relations: Welche Folgen hätte es, wenn Deutschland als Forschungsstandort unattraktiv wird?
Matthias Wernicke: Lassen Sie uns hoffen, dass dies so nicht passiert. Wir arbeiten daran, dass Deutschland weiterhin eine starke Forschungslandschaft behält, auch und gerade in unserer Industrie. Lassen Sie es mich positiv beantworten: Wenn wir das schaffen, werden wir auch in Zukunft schnellen Zugang zu hochqualitativen Medikamenten haben. Wir werden weiterhin attraktiv für Talente sein, die hier ihre Karrieren und Forschungsprogramme planen wollen, und wir werden als relevanter Standort auch im internationalen Wettbewerb angesehen.
Health Relations: Wenn bestimmte Medikamente nicht mehr in Deutschland entwickelt werden, werden Sie dann hier auch zunächst nicht eingeführt?
Matthias Wernicke: Wenn Medikamente im Ausland entwickelt werden, werden Sie theoretisch dennoch in Deutschland eingeführt. Dies ist vor allem eine wirtschaftliche Fragestellung, die sich Unternehmen stellen müssen. Ich befürchte jedoch, dass mit den politischen Weichenstellungen zum Beispiel im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sich die Nicht-Markteinführungen in Deutschland häufen werden, zum Leidwesen aller, die auf diese Produkte angewiesen sind.
Health Relations: Was bedeutet das für den deutschen Markt?
Matthias Wernicke: Die Folgen dieser Entwicklungen für den deutschen Markt sind erheblich. Es könnte zu einem Rückgang der Zahl der verfügbaren neuen Arzneimittel kommen. Der Zugang der Patientinnen und Patienten zu neuen Behandlungen könnte eingeschränkt werden. Es ist im Grunde ein Szenario, wie wir es anhand der Lieferengpässe im generischen Bereich bereits heute sehen: Man kann ein System auch kaputtsparen, wenn die Preissetzungen einfach nicht angemessen sind, und die Kassen über Jahre versuchen, immer weiter an der Kostenschraube zu drehen.
Health Relations: Was bedeutet das für das Pharmamarketing?
Matthias Wernicke: Der Kostendruck ist schon vor langer Zeit in den Marketing-Bereichen angekommen. Auch vor dem Hintergrund der veränderten Marktbedingungen müssen Unternehmen ihre Strategien anpassen und stärker digitale und andere innovative Kanäle bedienen. Man muss wissen: Die pharmazeutischen Unternehmen in Europa sind natürlich nur im Fachmarketing aktiv, das heißt, es werden nur Fachexperten nach strengen wissenschaftlich und regulatorisch vorgegebenen Maßstäben über die Produkte informiert. Das ist aber, gerade für neue Produkte, natürlich eine sehr wichtige Aufgabe – im wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig für die Patienten.