Prüfsiegel für Health-Apps: Mehr Qualität statt bunter Vielfalt?

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Sind Qualitätssiegel für Health-Apps wirklich sinnvoll? Ja, sagen HealthOn-Präsidentin Ursula Kramer und vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. Mit Einschränkungen.

Der Markt für Gesundheits-Apps wächst – und immer mehr Organisationen und Branchen-Experten fordern ein Qualitätssiegel für Health-Apps, um sowohl Verbrauchern als auch Ärzten eine Orientierung im App-Dschungel zu geben. Doch so leicht, wie es auf dem ersten Blick erscheinen mag, ist die Sache nicht.

HealthOn Qualitätssiegel für Health-Apps Ursula Kramer
Dr. Ursula Kramer ist Pharmazeutin und Expertin für Kommunikation und Medical Education. Sie ist CEO der Agentur sanawork Gesundheitskommunikation in Freiburg und Präsidentin des Vereins HealthOn, mit dem sie sich seit 2011 für die Etablierung von Qualitätsstandards in Health-Apps engagiert. Foto: HealthOn

Dr. Ursula Kramer setzt sich seit mehr als sieben Jahren aktiv für das Thema Qualitätssiegel für Health-Apps ein. Die Pharmazeutin ist CEO der Agentur sanawork Gesundheitskommunikation in Freiburg und Präsidentin des Vereins HealthOn, der Qualitätsplattform für Gesundheits-Apps, die sie 2011 gegründet hat. „Jemand, der pauschal nach einem Siegel für Gesundheits-Apps ruft, zeigt mir, dass er sich mit dem Markt und dessen Komplexität nicht auseinandergesetzt hat“, sagt sie. Was nicht heißt, dass Kramer gegen die Definition von Qualitätskriterien ist. Im Gegenteil: Auch HealthOn zeichnet Gesundheits-Apps, deren Hersteller umfänglich über die Qualität und Transparenz ihrer App informieren, mit dem HealthOn-Siegel aus. Ziel des Gütesiegels ist jedoch nicht die Bewertung des Nutzens einer App, sondern ein Check-up, was die App kann, in welchem Anwendungskontext sie Hilfe bietet, wie vollständig die Transparenzangaben des Herstellers sind und was über die Wirksamkeit bekannt ist. 

„Wir brauchen keine digitale Planwirtschaft, die beschreibt, was gebraucht wird. Wir brauchen mehr Offenheit für Innovationen!“
Birgit Fischer

Qualitätssiegel für Gesundheits-Apps Birgit Fische vfa Hauptgeschäftsführerin
Birgit Fischer war als Landtagsabgeordnete der SPD in NRW tätig, bevor sie 2007 zur Barmer Ersatzkasse wechselte und dort stellvertretende Vorstandsvorsitzende wurde. Seit 2011 ist sie Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa).Foto: vfa

Auch der Verband forschende Arzneimittelhersteller (vfa) hat das Thema Qualitätssiegel für Health-Apps auf der Agenda. vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer steht der Idee  grundsätzlich positiv gegenüber. „Aus unserer Sicht ist es erst einmal wichtig, dass mehr Apps den Weg ins Gesundheitssystem finden, deren Nutzen und Qualität in der Anwendung belegt ist.“ Gütesiegel könnten helfen, grenzüberschreitend kompatible Standards für diese Belege zu entwickeln. „Die Wirksamkeit digitaler Angebote sollte systematisch über alle Phasen der Patientenversorgung hinweg untersucht werden, etwa über Studien.“ Diese könnten, so Fischer, Aufschluss über die klinische Evidenz der Nutzung von Apps geben. „Bis zum Jahr 2017 gab es allein in den USA bereits mehr als 570 Untersuchungen zu Digital-Health-Anwendungen und -Apps. Besonders überzeugende Ergebnisse gibt es gerade für den Einsatz bei Diabetes, aber auch bei Depression oder bei Angststörungen.“ Ein kritischer Aspekt sei hierbei jedoch der Umstand, dass die Designs der Studien meist ebenso wenig standardisiert seien wie die der verwendeten Apps. „Das erschwert die Vergleichbarkeit und Bewertung der Studienergebnisse. Hier braucht es gemeinsame Standards.“

Ein Siegel für alle mit verbindlichen Spielregeln

Ein Qualitätssiegel muss Strukturen für die Forschung schaffen, darf aber nicht den Markt abwürgen. Fischer warnt vor einer Überregulierung des Healthcare-Marktes durch eine starre Qualitätssiegel-Definition. „Wir brauchen keine digitale Planwirtschaft, die beschreibt, was gebraucht wird. Wir brauchen mehr Offenheit für Innovationen!“ erklärt sie. „Und diese müssen auch über das Stadium von Pilotprojekten hinauskommen.“ Die vfa-Hauptgeschäftsführerin betont, wie groß das Potential von Apps sein kann. „Die Potentiale von digitalen Anwendungen erstrecken sich dabei über alle Phasen der Patientenversorgung, von der Prävention über die Diagnose bis hin zur Therapietreue. So lassen sich beispielsweise Patientensicherheit und die Versorgungsqualität weiter steigern, wenn etwa chronische Patienten weiterführende digitale Informations- und Unterstützungsangebote zu ihrer Therapie oder ihrem Arzneimittel erhalten. Bei allen Maßnahmen sollte das Wohl des Patienten im Fokus stehen.“

Ursula Kramer sieht das Patientenwohl vor allem durch die Transparenz von Gesundheits-Apps gesichert. Sie unterscheidet dabei zwischen der Transparenz in Richtung Verbraucher und Patienten und Transparenz für Entscheider der Heilberufsgruppen sowie für Krankenkassen. Patienten brauchen demnach wenige, grundsätzliche und einfach zu überprüfende Kriterien. „Sie müssen in der Lage sein, die Spreu vom Weizen trennen zu können, um gegebenenfalls nach einer Alternative zu suchen. Wie beim Modell der Stiftung Warentest kann man sich als Verbraucher erst dann einen Überblick verschaffen, wenn man nachsehen kann, wie eine App im Vergleich zu anderen Apps im gleichen Marktsegment abschneidet.“ Eine transparente Aufschlüsselung der Testergebnisse der jeweiligen Apps zeigten nicht nur dem Patienten, was die Anwendung auszeichnet und was sie zum Beispiel von einem Qualitätssiegel trennt, sondern könnten laut Kramer auch ein Anreiz für den Anbieter der App sein, sein Angebot zu optimieren. „Aber das funktioniert nur, wenn alle nach den gleichen Regeln spielen. Ein Siegel kann nur dann Orientierung bringen, wenn es eine Marktdurchdringung hat, also sichtbar und bekannt ist. Wenn jede Fachgesellschaft losläuft und anfängt, ein Qualitätssiegel zu entwickeln, erhöht das eher die Intransparenz.“

Die gleichen Kriterien für alle Apps? Das funktioniert nicht!

Soweit die Patientenseite. Doch auch Ärzte sitzen im selben Boot. „Um App-Empfehlungen aussprechen zu können, brauchen Mediziner und auch die Krankenkassen weitere Informationen zu einer App, zu ihrer Wirksamkeit und Studienlage, zu ihrem Zulassungsstatus (ist die App ein CE-gekennzeichnetes Medizin-Produkt?) zur Empfehlung durch Fachgesellschaften oder Patientenorganisationen“, erläutert Ursula Kramer.  „Ich kann jedoch nicht für jede App klinische Studien fordern, weil nicht jede App Therapie und Diagnose unterstützt. Eine App, die in der Primärprävention genutzt wird, muss andere Anforderungen erfüllen. Ein Kriterienkatalog, dem alle Apps in allen Punkten entsprechen müssen, macht aus diesem Grund keinen Sinn.“ Apps seien zu unterschiedlich – und auch unterschiedlich riskant.

Was aber ist dann die Lösung? Wie schafft man einen Kriterienkatalog, der die Basis für ein übergreifendes Qualitätssiegel für Health-Apps darstellen kann?

Für Ursula Kramer ist der Kern der Lösung die Flexibilität. Ähnlich wie der Markt müssen sich auch die Vorgaben für ein Siegel weiterentwickeln. „Ich glaube, dass wir uns auf eine Art Must-Have, einen minimalen gemeinsamen Nenner für alle Gesundheits-Apps einigen können. Das zeigen die Überlappungen der Kriterienkataloge, die es bisher gibt. Sie alle greifen die Transparenz- und Qualitätskriterien auf, wie sie auch der HealthOn-Ehrenkodex vorsieht. Darüber hinaus muss dann jede Fachgesellschaft für sich entscheiden, was für ihren Behandlungskontext relevant ist.“ Dabei müsse man das Rad nicht neu erfinden. „Ich würde vorhandene Kriterien einbinden wollen. Beispiel: Die Qualität von Maßnahmen der Primärprävention sind über den Leitfaden ‚Prävention der gesetzlichen Krankenkassen‘ definiert. Welche Anforderungen für eine Erstattung nach SGB V Paragraph 20 erforderlich sind, wird dort definiert. Das würde ich auch auf Apps aus diesem Segment übertragen. Für den Bereich Therapie und Diagnose gibt es ganz wenige Apps – das wird auch in Zukunft ein stark reguliertes Feld bleiben, das über das Medizinprodukte-Gesetz geregelt ist.“

„Was hat der Nutzer davon, wenn auf der Seite einer Fachgesellschaft eine App mit einem Qualitätssiegel vorgestellt wird? Die Frage bleibt, was mit den anderen 50 Apps ist, die zur Auswahl stehen.“
Ursula Kramer

Und noch etwas ist aus Sicht Kramers elementar: Ein Qualitätssiegel kann nur dann eine Hilfe für Arzt und Patient sein, wenn es alle vorhandenen Gesundheits-Apps berücksichtigt. „Markttransparenz schaffen wir, wenn wir nicht einzelne Apps mit Gütesiegel herausstellen, sondern zeigen, wie zum Beispiel alle Diabetes-Apps oder alle Schmerz-Apps zu einem bestimmten Stichtag abschneiden. Werden diese Apps nach einem festen, öffentlich zugänglichen Kriterienkatalog bewertet, lassen sie sich auch miteinander vergleichen. Was hat der Nutzer davon, wenn auf der Seite einer Fachgesellschaft eine App mit einem Qualitätssiegel vorgestellt wird? Die Frage bleibt, was mit den anderen 50 Apps ist, die zur Auswahl stehen, was ist mit der App, die ich nutze, und warum hat sie kein Siegel?“

Qualitätssiegel für Health-Apps sollen vor allem eines: das System vereinfachen

Doch um das zu erreichen, braucht es erst einmal eines: die konsolidierte Anstrengung aller Beteiligten. Laut Fischer hat die industrielle Gesundheitsindustrie hier bereits vorgelegt: „Wir haben gemeinsam ein eHealth-Positionspapier auf den Tisch gelegt. Jetzt gilt es, die gemeinsame nationale eHealth-Strategie mit allen Partnern im Gesundheitswesen und unter politischer Moderation zu entwickeln.“

Alle Beteiligten müssen am selben Strang ziehen. Dann könnte funktioneren, was Fürsprecher wie Ursula Kramer sich von einem Siegel verprechen:  „Kriterien für die Einschätzung von Qualität und Sicherheit von Gesundheits-Apps sind wichtig, weil das Transparenz schafft“, fasst sie zusammen. Welche Kriterien jede Gesundheits-App erfüllen sollte, ganz gleich ob es sich um eine Diabetes-, Schmerz- oder Depressions-App handelt, und welche fachspezifischen Kriterien darüber hinaus gelten sollen, das sollten ihrer Meinung nach die Fachgesellschaften untereinander abstimmen. „Ich glaube daran, dass in einer digitalisierten Welt der Zukunft der Einzelne in seiner Entscheidungsfreiheit gestärkt werden sollte. Deshalb sollte ein Qualitätssiegel die Dinge einfacher machen. Und nicht den Komplexitätsgrad steigern.“

Qualitätssiegel für Health-Apps – Learnings

  1. Transparenz für Verbraucher und Ärzte durch EIN übergeordnetes Qualtätssiegel für Health-Apps
  2. Ein Siegel für ALLE relevanten Gesundheits-Apps
  3. Siegel-Kriterien: Kombination aus allgemein verbindlichen basis- und fachspezifisch differenzierten Vorgaben
  4. Implementierung eines Bewertungssystems analog des Modells Stiftung Warentest
  5. Einbettung in eine nationale eHealth-Strategie unter Mitarbeit aller beteiligten Partner
  6. Darüber hinaus: Formulierung international kompatibler Standards für Wirksamkeitsstudien von Apps
Beitragsbild: © istock/BiancaGrueneberg
Autor Profilbild
Freelance Editor mit Schwerpunkt Text & Audio aus Hamburg. Für Health Relations schreibt sie regelmäßig über Trends in der Healthcare-Kommunikation und porträtiert Markenmacher:innen aus der Branche.

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