Orphan Drugs: „Der Weg über die Spezialist:innen ist der Wichtigste“

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Dr. Stefan Kropff ist Medizinischer Direktor bei der Amgen GmbH. © Amgen
Welche Rolle spielen Spezialist:innen, welche Hausärzt:innen, wenn es um Seltene Erkrankungen geht? Dr. Stefan Kropff, medizinischer Direktor bei der Amgen GmbH, erklärt, welche Kommunikationswege das Unternehmen in diesem Forschungsfeld beschreitet.

In diesem Interview erfahren Sie:

    • Welche Rolle Ärzt:innen in der Identifizierung von Studienteilnehmer:innen spielen,
    • Welche weiteren Wege es gibt, um potenzielle Studienteilnehmer:innen zu identifizieren und anzusprechen,
    • Wie Amgen Awareness bei Fachgruppen erreicht, damit diese das Thema auf dem Schirm haben,
    • Wie und auf welchen Wegen Amgen speziell Niedergelassene über Rare Diseases und neue Therapiemöglichkeiten aufklärt,
    • Welche Rolle KI in der zukünftigen Entwicklung von Orphan Drugs einnehmen kann.

Seltene Krankheiten sind, wie der Name schon sagt, selten – bezogen auf die Anzahl der Patient:innen. Schaut man sich die Anzahl der einzelnen Indikationen an, stellt man fest, dass es viele sogenannte Rare Diseases gibt. Somit ist das Engagement im Bereich Orphan Drugs trotz kleiner Zielgruppen für Pharmaunternehmen attraktiv. Zudem das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG)  entsprechende Anreize setzte.  Auch Manfred Heinzer, Vice President & General Manager bei Amgen Deutschland, hat sich auf dem Pharma 2022 Jahrestagung des Handelsblatts auf dieses Thema fokussiert. Es ginge, so Heinzer, darum, Rahmenbedingungen zu ermöglichen und zu erhalten, die eine bestmögliche Versorgung von Patient:innen gewährleiste. Nebend besagten Rahmenbedingungen sind es aber auch kommunikative Fragen, die den Erfolg von Orphan Drugs ausmachen können. Wie kommen Patient:innen und Pharmaunternehmen zusammen, wie und an welcher Stelle kommen Fachmediziner:innen oder auch niedergelassene Ärzt:innen ins Spiel? Dr. Stefan Kropff, medizinischer Direktor bei der Amgen GmbH, gibt Antworten.

Health Relations: Die Studienlage ist bei der Entwicklung von Orphan Drugs eine Herausforderung, da die Anzahl der Studienteilnehmer:innen begrenzt ist. Welche Rolle spielen Ärzt:innen in der Identifizierung von Studienteilnehmer:innen?

Stefan Kropff: Generell sind Ärztinnen und Ärzte, die sich für Forschung engagieren und sich an Studien beteiligen, die entscheidenden Bindeglieder bei der Vermittlung und Motivation für Patient:innen. Sie können am besten einschätzen, ob ihre Patient:innen zur Forschungsfrage passen, zur Teilnahme bereit sind und mögliche Fragen klären. Das ist bei großen Indikationen nicht anders als bei Seltenen Erkrankungen. Was Spezialist:innen von Seltenen Erkrankungen häufig besser wissen und unmittelbarer erfahren als ihre Kolleginnen und Kollegen in „großen“ Indikationen, ist der hohe Bedarf an Forschung und somit die Notwendigkeit eines eigenen Beitrags, um Fortschritte in der Indikation zu ermöglichen. Je größer dabei der „unmet medical need“  (unerfüllter medizinischer Bedarf, Anm. der Red.) und je limitierter aktuelle Behandlungsansätze sind, desto größer ist die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Häufig haben sich Zentren für bestimmte Seltene Erkrankungen an einzelnen Universitäten herausgebildet, die überregionale Bedeutung haben und somit – trotz der Seltenheit der Erkrankung – Zugang zu einer relativ großen Anzahl Betroffener haben.

Orphan Drugs
Über 40 Prozent der im Jahr 2020 in Deutschland neu eingeführten Arzneimittel waren laut Pharma Fakten sogenannte Orphan Drugs, also Medikamente, die wurden für die Behandlung Seltener Erkrankungen zugelassen worden sind. Selten ist eine Erkrankung dann, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betrifft. Laut Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) gibt es 134 Orphan-Medikamente, hinzu kommen 66 Medikamente gegen Seltene Krankheiten, die den Orphan-Status nicht mehr besitzen, weil er verordnungsgemäß nach zehn Jahren abgelaufen ist oder von der Firma zurückgegeben wurde.

Health Relations:  Welche weiteren Wege gibt es, um potenzielle Studienteilnehmer:innen zu identifizieren und anzusprechen?

Stefan Kropff: Der Weg über die Spezialist:innen in der jeweiligen Seltenen Erkrankung ist bei weitem der Wichtigste. Auch Patient:innenorganisationen – wenn sie existieren – sind häufig ausgesprochen gut informiert, engagiert und vernetzt. Sie verfolgen die Forschungsansätze genau und informieren ihre Mitglieder dazu unabhängig und/oder mit Unterstützung der o.g. spezialisierten Ärzteschaft. In ihren Foren informieren sie über die wesentlichen Ein-/Ausschlusskriterien und Designmerkmale von Studien bei Seltenen Erkrankungen, über die teilnehmenden Zentren in Deutschland und die jeweiligen Studienleitungen. All das sind öffentliche Informationen, die in Studien-Datenbanken wie Clinicaltrials.gov oder EudraCT einsehbar sind. Dieselben Informationen bieten inzwischen viele forschende Pharmaunternehmen auf ihren deutschen Webseiten in Portalen an, die sich gezielt an interessierte Laien bzw. Betroffene richten und über in Deutschland laufende Studien informieren.

AMNOG & Orphan Drugs
Überschreiten sie nicht die Umsatz­schwelle von 50 Millio­nen Euro pro Jahr, entfällt die frühe Nutzenbewertung, die ansonsten für neue Präparate erforderlich ist. Das heißt, dass das Medika­ment erwiesenermaßen einen Zusatznutzen im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie aufweisen muss. Diese Bewertung bildet dann die Grundlage für die Verhandlungen zwischen Pharmahersteller und GKV-Spitzenverband über den Erstattungsbetrag. Medikamenten für Seltene Krankheiten aber wird generell ein fiktiver Nutzen zugeschrieben, es erfolgt also keine Einordnung in die Kategorien „geringer“, „beträchtlicher“ oder „erheblicher Zusatznutzen“. Pharmaunternehmen sind somit relativ frei, was die Preisgestaltung angeht.

Health Relations: Wie schaffen Sie Awareness bei Fachgruppen, damit diese das Thema auf dem Schirm haben?

Stefan Kropff: Nichts ermöglicht die persönliche Erfahrung mit neuen Therapieansätzen besser und früher, als Studienzentrum zu sein und eigene Patient:innen ins Studienprogramm einzubringen. Daher nimmt die Kommunikation mit der betroffenen Fachgruppe im Rahmen einer klinischen Studie einen sehr hohen Stellenwert ein. Weil die Anzahl der Spezialist:innen i.d.R. klein, deren Engagement und Vernetzung untereinander aber ausgesprochen hoch ist, verbreiten sich relevante Neuerungen umgehend und nachhaltig. Wenn mit gezieltem Screening die Identifikation Betroffener möglich ist, sollten auch Hausärzt:innen, Internist:innen und weitere Fachabteilungen in größeren Krankenhäusern auf die Möglichkeit gezielter Therapie aufmerksam gemacht und ihre Rolle als Zuweisende genutzt werden. Und
selbstverständlich werden auch auf Symposien und bei Kongressen neue Therapieansätze und wissenschaftliche Fortschritte mit den betroffenen Fachgruppen geteilt.

Health Relations: Läuft die Kommunikation in der Studienphase ausschließlich über den behandelnden Ärzt:innen – oder auch mit dem Patienten direkt, beispielsweise via App etc.?

Stefan Kropff: Die Kommunikation mit Studienteilnehmenden läuft ausschließlich über die Studienärzt:innen. Für das forschende Pharmaunternehmen – in der Terminologie der klinischen Prüfung der „Sponsor“ – sind die Teilnehmenden in den Studien anonym. Es gibt hier aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes also gar nicht die Möglichkeit eines persönlichen Kontaktes. Apps können dennoch durchaus eine Rolle in klinischen Studien spielen, aber nie für die Kontaktaufnahme durch das Pharmaunternehmen.

AMNOG Report 2022
Der frisch erschienene  AMNOG Report 2022 hat einen rege Diskussion über Orphan Drugs ausgelöst, unter anderem auch, weil sie als Kostentreiber im Gesundheitssystem eingestuft worden sind, ohne dass ihr Zusatznutzen emnpirisch belegt werden müsste. Pharmaunternehmen wiederum verweisen auf die Kosten in Forschung und Entwicklung, auf kleine Zielgruppen und auf den innovativen Ansatz, der durch eine rein kostengetriebene Perspektive vernachlässigt werden würde, so der vfa. Zudem der Bedarf groß sei. Denn Seltene Erkrankung gibt es viele. Claas Röhl, Gründer von NF Kinder, einer österreichischen Patientenorganisation für Menschen mit der genetischen Erkrankung „Neurofibromatose“, weist darauf hin, dass es rund 8.000 Seltene Erkrankungen gibt, von denen rund 94 Prozent „über keine zugelassene Therapie verfügen.“ Es wird also in Zukunft noch viel gesprochen werden über Orphan Drugs.

Health Relations: Mit Ihrem Fortbildungsprojekt Four Patients sprechen Sie gezielt auch Hausärzte und niedergelassene Ärztinnen an. Wie wichtig sind diese im Kontext von Forschung und Entwicklung der Orphan Drugs?

Stefan Kropff: Das erwähnte Format „Four Patients“ versucht, die für die niedergelassenen Hausärzt:innen und Internist:innen relevanten Therapiefortschritte aus 4 Spezialdisziplinen, Osteoporose, Onkologie, Kardiologie, Inflammation, zu vermitteln. Das ist deswegen wichtig, weil Hausärzt:innen sehr aufmerksam beobachten und erste Anlaufstelle für Patient:innen sind. Dadurch müssen sie ihre Rolle als Zuweisende für Spezialist:innen gezielt wahrnehmen sowie im rasch anwachsenden Wissensdschungel die Übersicht behalten. Eine Seltene Erkrankung kann dabei durchaus auch mal eine Rolle spielen, das ist in diesem Fortbildungsformat aber eher nicht die Regel.

Health Relations:  Wie und auf welchen Wegen informieren Sie denn speziell Niedergelassene über Rare Diseases und neue Therapiemöglichkeiten?

Stefan Kropff: Hausärzt:innen sind ganz wesentlich in der Begleitung von Patientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen, insbesondere wenn diese diagnostiziert sind. Sie können auch den entscheidenden Impuls zur Diagnosestellung geben, durch die Überweisung zu den „richtigen“ Spezialist:innen. Sie haben aber ein sehr viel weiteres Aufgabenspektrum abzudecken, als sich auf die ca. 8000 Seltenen Erkrankungen fokussieren zu können. Selbstverständlich stehen aber auch Hausärztinnen und Hausärzten zertifizierte Fortbildungsveranstaltungen zu Seltenen Erkrankungen bei Interesse offen.

Health Relations: Gibt es Informationsmaterial, das extra auch für den Patienten und Therapieteilnehmerin aufbereitet wird, damit diese die Therapie versteht – und sich des vorhandenen Risikos, das Orphan Drugs mit sich bringen, bewusst sind?

Stefan Korff: Bezogen auf die Phase der klinischen Prüfung erhalten alle Patient:innen neben dem Gespräch mit der jeweiligen Studienleitung eine ausführliche, schriftliche Aufklärung über den Forschungsansatz, die Chancen und Risiken sowie die absolute Freiwilligkeit der Teilnahme an der Studie und das Recht, jederzeit ohne Angabe von Gründen von der Einwilligung zur Studienteilnahme zurückzutreten. Diese Dokumente werden von Ethikkommissionen geprüft und freigegeben, bevor sie an Studienteilnehmende ausgegeben werden. Sie sind oft sehr umfangreich und in verständlicher Sprache für die Patient:innen verfasst. Diese Informationsanforderung unterscheidet sich nicht bei einer klinischen Studie zu einer seltenen oder einer häufigen Erkrankung. Nach einer Zulassung können von der Zulassungsbehörde schriftliche Dokumente vorgegeben sein, deren Ausgabe an Ärzt:innen und/oder Patient:innen verbindlich ist, zumindest bei der Erstverschreibung. Diese Dokumente erhalten i.d.R. über den Beipackzettel hinaus wichtige Hinweise zur sicheren Anwendung des Arzneimittels. Dies ist bei einer Seltenen Erkrankung häufiger der Fall.

Health Relation: Welche Relevanz hat in Ihren Augen die KI, was die Identifikation von Patienten oder angrenzenden Indikationen angeht?

Stefan Korff: Im Bereich der Forschung wird Künstliche Intelligenz immer wichtiger, um riesige Datenberge nach der „Stecknadel“ bzw. nach nicht-offensichtlichen Assoziationen und Kausalzusammenhängen zum besseren Verständnis, z.B. pathophysiologischer Zusammenhänge, systematisch zu durchsuchen. Das schafft oft erst die Basis, um überhaupt einen gezielten Therapieansatz entwickeln zu können. In der praktischen Versorgung und zur Identifizierung konkreter Patient:innen spielt KI aber unseres Wissens noch keine Rolle – das bleibt vorerst Handarbeit und ärztliche Kunst.

Health Relations: Wie wichtig sind für Sie und das Geschäftsmodell Orphan Drugs Modelle wie der digitale Zwilling, den das Fraunhofer Institut entwickelte, gerade im Hinblick auf die Kostendiskussion? Das Ziel dieses Projekts ist es ja gerade, ein Preisschild für Therapien ausstellen zu können und dem Arzt und der Medizinerin eine Entscheidungshilfe geben zu können?

Stefan Korff: Das Projekt des digitalen Zwillings hat das Ziel, Behandlungseffekte durch die Aufdeckung von Mustern in großen Datenmengen mithilfe künstlicher Intelligenz besser voraussagen zu können. Diese Muster sind in der individuellen ärztlichen Erfahrung nicht erkennbar. Sollte dieses Projekt erfolgreich sein, verspricht es eine präzisere Auswahl der besten Therapie anhand der Symptome, Begleiterkrankungen und medizinischen Historie der oder des Betroffenen. Es gibt neben diesen Aktivitäten aber auch andere Wege zur gezielten, quasi maßgeschneiderten personalisierten Medizin: So werden heute bereits viele onkologische Therapien nur dann eingesetzt, wenn ein bestimmter Biomarker nachweisbar ist.
Beide Ansätze vermeiden Kosten für Therapien, von denen die Patient:innen wahrscheinlich keinen Nutzen haben würden. Oder andersherum ausgedrückt: So werden diese Therapien nur bei den Patientinnen und Patienten eingesetzt, bei denen ein positiver Effekt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann.

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