Zell- und Gentherapien: „Ein entscheidender Moment für die Pharmaindustrie“

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Gentherapie
© Giovanni Cancemi / Adobe Stock
Dem Markt für Zell- und Gentherapien (CGT) werden ein rasantes Wachstum und gute Umsätze prognostiziert. Wie können Pharmaunternehmen dieses Potenzial voll ausschöpfen?

Laut einer Roland-Berger-Studie (Mai 2021) stellen Zell- und Gentherapien (CGT)  ein extrem vielversprechendes Segment für die pharmazeutische Industrie dar. Bis 2026 prognostiziert sie einen Umsatz von 27,9 Milliarden Euro. Eine stolze Summe, die angesichts der aktuellen Marktentwicklung nicht aus der Luft gegriffen zu sein scheinen.

Der Markt für die Entwicklung von Zell- und Gentherapien ist heiß – und umkämpft. Er bringt zudem spezifische Herausforderungen mit sich, die strukturelle Veränderungen nach sich ziehen – in der Forschung und im Marketing.

Kooperationen und Investitionen: strategische Positionierung in der Zell- und Gentherapien-Forschung

Der Technologieplattform kommt eine enorm wichtige Funktion im Gen- und Zelltherapien-Segment zu. Early Movers wie Pfizer, Novartis und Gilead  haben deshalb in den letzten Jahren Zeit und Geld in Kooperationen mit erfolgversprechenden Biotechnologieunternehmen investiert. Novartis arbeitet beispielsweise seit 2020 mit Sangamo in der Forschung und Entwicklung zusammen.  Im Fokus stehen die genomische Behandlung von Autismus und andere neurologische Entwicklungsstörungen. Pfizer wiederum schloss 2020 einen Produktionsvertrag mit Vivet Therapeutics ab, und zwar für dessen Prüfgentherapeutikum  zur Behandlung von Morbus Wilson.  Auch Bayer mischt kräftig mit: Das Entwicklungsportfolio von Bayer für Zell- und Gentherapien umfasst neun fortgeschrittene Präparate in unterschiedlichen Stadien der klinischen Entwicklung. Diese decken mehrere Therapiegebiete mit hohem medizinischem Bedarf ab, wie beispielsweise Onkologie oder neurodegenerative, neuromuskuläre und kardiovaskuläre Indikationen – mit führenden Programmen in den Bereichen Parkinson-Krankheit, Pompe-Krankheit, Hämophilie A und kongestive Herzinsuffizienz.


„Dies ist ein entscheidender Moment für die Pharmaindustrie“

Interview mit Wolfram Carius, PhD Executive Vice President of Cell and Gene Therapy, Pharmaceuticals Division, Bayer

Zell- und Gentherapie the next big thing in Pharma: Wolfram Carius von Bayer auf Health Relations
Prof. Dr. Wolfram Carius ist Executive Vice President und Leiter des Bereichs Cell and Gene Therapy in der Division Pharmaceuticals von Bayer. Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der pharmazeutischen Industrie und übte seine Tätigkeiten in Asien, Südamerika, Nordamerika und Europa aus.

Health Relations: Laut einer aktuellen Studie von Roland Berger können CGT-Produkte am Markt nur dort erfolgreich sein, wo es noch keinen wirkungsvollen Therapieansatz gibt. Denn aufgrund ihrer Kosten werden sie vor allem dort zum Einsatz kommen, wo es wenig Alternativen in der Behandlung gibt. Im Kern sprechen wir hier von Rare Diseases. Sehen Sie das ähnlich?

Wolfram Carius: Zell- und Gentherapien verändern schon heute das Leben von Patienten in verschiedenen Indikationen, auch über seltene Krankheiten hinaus. Im Bereich der Gentherapie zum Beispiel haben monogenetische Indikationen bereits eine relativ hohe Erfolgswahrscheinlichkeit. Auch auf dem Gebiet der Zelltherapien geht es steil voran, und so stehen beispielsweise CAR-T-Therapien an der Spitze der Innovation in der Onkologie. Zell- und Gentherapien haben ein enormes Potenzial, Patienten, Gesundheitssystemen und der Gesellschaft einen enormen Wert zu bringen. Hinsichtlich der Preisgestaltung und Kostenerstattung ist zu erwarten, dass jede Therapie in Abhängigkeit von der Indikation individuell betrachtet wird.
Aufgrund der Besonderheit von Zell- und Gentherapien, beispielsweise einmalige Behandlung oder kuratives Potenzial, werden derzeit in mehreren Ländern innovative Preis- und Zugangsmodelle diskutiert. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass politische Entscheidungsträger und Gesundheitsdienstleister mit der Industrie zusammenarbeiten, damit Zell- und Gentherapien den Patienten auf breiter Basis zugänglich gemacht werden können.

Health Relations: Laut erwähnter Studie ist der Markt ein dynamischer, geprägt von strategischen Kooperationen und einem hohen Tempo.  Wie würden Sie die Marktsituation beurteilen? Wie stellt Bayer sich hier auf? 

Wolfram Carius: Externe Innovation ist ein wichtiger Werttreiber, insbesondere im hochdynamischen und wettbewerbsintensiven Bereich der Zell- und Gentherapien. Die richtige Strategie ist hier besonders wichtig: Wir wollen externe Innovationen zusammen mit der Expertise unserer Teams bei Bayer einsetzen, um Produkte so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen.
Unser Partnermodell für Zell- und Gentherapien ist beispiellos. Unsere Partner, so wie AskBio oder BlueRock Therapeutics, arbeiten selbstständig und sind für die Weiterentwicklung ihrer Portfolios und Technologien verantwortlich. Wir glauben, dass sie dadurch von der Erfahrung und Reichweite einer größeren Organisation profitieren können, während wir schnelle und flexible Biotech-Unternehmen fördern und von ihnen lernen. Mit anderen Worten: Wir kombinieren das Beste aus zwei Welten, Pharma und Biotech, um die Entwicklung von bahnbrechenden Innovationen in wahre Therapien für Patienten zu beschleunigen.

Health Relations: Das hohe Tempo gilt auch für die Entwicklung von Produkten. Wenn die Zahl der Patienten klein ist  und das Produkt gut wirkt, dann ist der Umsatz des Produkts logischerweise begrenzt. Heißt, Pharmaunternehmen müssen viele Produkte in kurzen Zeiträumen entwickeln. Wie beurteilen Sie diese These?

Wolfram Carius: Unabhängig von der Größe einer Zielindikation geht es oft bei Zell- und um Krankheitsbereiche mit hohem ungedecktem medizinischem Bedarf, in denen oft keine Behandlungsoptionen verfügbar sind. Die Dringlichkeit ergibt sich hier aus der Entwicklung therapeutischer Optionen für Patienten, die oft keine Zeit zum Warten haben. Unser Ansatz der Investition in Plattformtechnologien erlaubt genau das: Viele Produkte in einem kurzen Zeitraum zu entwickeln.

Health Relations: Ist trotz aller Herausforderungen der Zell- und Gentherapien-Markt the next big thing für Pharmaunternehmen?

Wolfram Carius: Absolut: Dies ist ein entscheidender Moment für die Pharmaindustrie. Klassische Modalitäten reichen bei vielen Krankheiten nicht aus, insbesondere bei solchen, die durch nicht behandelbare Proteine, multifaktorielle Krankheiten oder Gendefekte verursacht werden. Daher werden Zell- und Gentherapien eine neue Dritte Säule der Medizin bilden neben chemischen und biologischen Arzteimitteln. Wir müssen in neuartige Technologien investieren, die das Potenzial haben, Krankheiten an der Wurzel zu packen. Zell- und Gentherapien haben ein einzigartiges Potenzial, Krankheiten anzugehen, für die es keine oder nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten gibt. Die Bedeutung dieser Therapien wird immens sein.


Der Zell- und Gentherapien-Markt ist dynamisch

CGT-Produkte sind in der Produktion kostenintensiv, das schlägt sich auch auf die Behandlungskosten nieder. Im Umkehrschluss heißt das, dass ihre Wirkung bahnbrechend sein muss. Warum? Eine kontinuierliche Verbesserung von bereits bestehenden  Therapiemöglichkeiten für unterschiedliche Indikationen wird ihren Einsatz nicht rechtfertigen. CGT-Produkte können, laut Roland Berger-Studie, am Markt vor allem dort erfolgreich sein, wo es noch keinen wirkungsvollen Therapieansatz gibt. Im Kern sprechen wir hier von Rare Diseases, von seltenen Indikationen mit einer geringen Patientenanzahl. Zell- und Gentherapien können einen spürbaren Benefit für den Patienten ermöglichen. Der Zell- und Gentherapien-Markt ist ein dynamischer, er verlangt von seinen Playern Schnelligkeit. Neue Therapien sollten daher auch zu einem möglichst frühen Zeitpunkt mit den jeweiligen Regulierungsbehörden erörtert werden. Das Ziel ist ein schneller Markteintritt mit einer Range an Produkten und fortlaufenden Launches.

Zielgruppengenaue Kommunikation, spezialisierte Marketingteams

Das hat auch Auswirkungen auf das Marketing. Es muss möglichst schnell und zielgruppengenau agieren. Die Kenntnis der relevanten Behandlungszentren, Fachärzte und KOLs ist dafür unerlässlich; sie sollten möglichst früh in die Entwicklung neuer Zell- und Gentherapien einbezogen werden, um das Produkt rasch auf die Straße zu bringen. Der Zeitfaktor wird eine immer größere Rolle spielen. Der Druck auf die Pharmaunternehmen und die Beschäftigten wird in diesem Kontext unweigerlich steigen. Die CGT-Thematik hat somit einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Kultur von Unternehmen. Das sollten Pharmaunternehmen im Blick behalten und ihre Organisation entsprechend ausrichten. Bestehende Strukturen im Marketing sollten geprüft und ggf.  auf neue Beine gestellt werden. Transparenz, Agilität und eine funktionale interne Kommunikation sind dafür ebenso wichtig wie der geschulte Außendienst und präzise Marktkenntnisse. Das ist nicht neu, aber in diesem Segment zentral für den Erfolg. Zell- und Gentherapien können ein gutes  Geschäftsmodell für Pharma sein – wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

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