„Viele dachten, Digitalisierung ist ein Hype, das geht wieder weg“

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Lehrt Ärztinnen und Ärzten digitale Kompetenzen: Prof. Dr. Jan P. Ehlers von der Universität Witten im Interview auf Health Relations.
Lehrt Ärztinnen und Ärzten digitale Kompetenzen: Prof. Dr. Jan P. Ehlers von der Universität Witten /Herdecke. Foto: U W/H

Prof. Dr. Jan Peter Ehlers von der Universität Witten/Herdecke vermittelt der nachwachsenden Ärztegeneration neben medizinischen auch Digitalkompetenzen. Dabei geht es ihm vor allem um eines: Um das Begeistern und das Schüren von Innovationsfreude. Im Interview berichtet er, warum und wie er dieses Ziel erreicht.

Eine stärker datengetriebene Medizin verlangt von Medizinern die Fähigkeit, mit Daten umzugehen und diese zu interpretieren. Neben medizinischem Know-how werden in Praxen und Krankenhäusern also digitale Kompetenzen immer wichtiger. Prof. Dr. Jan P. Ehlers hat unter anderem den Lehrstuhl für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke (UW/H) inne – und sieht hier starken Handlungsbedarf. Denn nur wenn Ärzte die Möglichkeiten der Technik anerkennen, haben Sie die Chance, aktiv im Gesundheitssystem mitzuwirken und zu Gestaltern zu werden. Dafür braucht es Innovationsfreude. Und Emotionen.

Health Relations: Herr Professor Ehlers, welche Inhalte müssen wir jungen Ärztinnen und Ärzten in ihrer Ausbildung vermitteln, um sie für ihr späteres Berufsleben an Kliniken zu wappnen – über die medizinischen Kenntnisse hinausgehend?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Wir müssen ihnen vor allem methodisches Wissen vermitteln, das es den Ärztinnen und Ärzten ermöglicht, an der Veränderung im Gesundheitswesen teilzuhaben und diese aktiv mitzugestalten. Es ist fast schockierend, wie wenig ausgeprägt das Bewusstsein von Ärztinnen und Ärzten, von Therapeuten und Pflegekräften für die Digitalisierung ist. Viele dachten: „Das ist ein Hype, das geht wieder weg.“ Wir haben uns damit nicht ausreichend beschäftigt. Ich war jüngst auf einer Alumni-Tagung, auf der Ärztinnen und Ärzte ihre Fragestellungen im Hinblick auf Digitalkompetenzen äußerten. Da wurden Fragen wie „Wie gehe ich mit Krankenhaus-Informationssystemen (KIS) um?“ gestellt. Darüber sollten wir wirklich hinaus sein. Wenn Sie dort jemanden nach seinen Erfahrungen mit der App Ada befragen, herrscht Stille. Da sind Patienten oft viel weiter als diejenigen, die sie durch die Therapie und das System führen sollten.

Health Relations: Heißt, auch die jungen Ärzte haben noch nicht das Potential der Digitalisierung erfasst? Aber die jungen Ärzte sind doch Digital Natives? Müssten diese nicht um das Potential von digitalen Anwendungen in der Medizin wissen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Es herrscht ein Clash of Culture. Die jungen Ärztinnen und Ärzten sind quasi mit dem Handy in der Hand geboren, das stimmt. Aber sie haben dennoch oft nicht wirklich eine Ahnung, was für ein Markt der Möglichkeiten sich da auftut. Beispiel: Wenn Sie diese fragen, wer bereits schon einmal Wikipedia genutzt hat, heben alle die Hand. Wenn Sie fragen, wer denn bereits mal einen Wikipedia-Beitrag verfasst hat, heben höchstens zehn Prozent die Hand. Wir haben eine große Diskrepanz zwischen Konsum und Produktion von digitalen Inhalten und Anwendungen. Die meisten konsumieren, ohne zu hinterfragen, was sie da nutzen. Dieses Bewusstsein, die Digitalkompetenz, müssen wir in der Ausbildung schaffen. Auch weil eine ethische Diskussion über die Nutzung digitaler Tools im Gesundheitswesen sonst nicht stattfindet. Und die halte ich für wesentlich. Ist es gut, einen Schrittzähler von Krankenkassen im Alltag einzusetzen? Oder ist das unter Umständen die Voraussetzung für ein Scoring-System, in dem ich als Patient bewertet und von Krankenkassen eingestuft werde. Diese Fragen müssen Sie sich stellen. Auch als Arzt. Und dieses Denken müssen wir lehren.

„Die Lunte ist schon verdammt nah an der Bombe.“

Health Relations: Wie leisten Sie das?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Unterschiedlich. In unserem neuen Modellstudiengang arbeiten wir mit Stakeholdern, Patienten und Ärztinnen und Ärzten in den Seminaren und beleuchten so unterschiedliche Kompetenzen, die Sie als Mediziner mitbringen müssen: Die wissenschaftliche Kompetenz, eine hohe persönliche Kompetenz, eine große Fachkompetenz und die Digitalkompetenz. Studierende haben zusätzlich die Möglichkeit, sich weiter zu spezialisieren, zum Beispiel auf digitale Medizin. Das führen wir fakultätsübergreifend durch, zum Beispiel mit den Philosophen oder Wirtschaftswissenschaftlern. Das ermöglicht es uns, unterschiedliche Perspektiven auf ein Fachgebiet zu geben.

Health Relations: Ist das der neue Trend auch in der Didaktik: Die fachübergreifende Zusammenarbeit?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Das müssen wir in einer digitalen Welt tun. Wir müssen die transdisziplinären Kompetenzen zusammenführen. Das Faszinierende in einer digitalen Welt ist, dass, wenn Sie Menschen aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammenbringen, diese zwar ähnlich klingendes Vokabular verwenden, sich aber trotzdem nicht verstehen, weil die Begriffe inhaltlich anders aufgeladen sind. Im ruhigen Setting, an der Universität, kann man ein gemeinsames Vokabular entwickeln und so gemeinsame Ziele definieren oder inhaltliche Schnittmengen entdecken. Unter Stress, zum Beispiel im Krankenhaus-Alltag, funktioniert das nicht.

Health Relations: Müssen wir die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten vor diesem Hintergrund radikal ändern?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Die Digitalisierung bleibt, die geht nicht wieder weg. Da müssen wir ran, auch didaktisch. Unsere Aufgabe ist es, diesen Kosmos zu eröffnen, die Digitalisierung mit all ihren Möglichkeiten und auch Veränderungen, die sie hervorruft, als etwas Positives zu vermitteln. Wir können sie lenken, leiten, entwickeln und sinnstiftend einsetzen. Eric Topol hat ein Buch herausgebracht mit dem Titel „How Artificial Intelligence Can Make Healthcare Human Again“. Das ist die These, die wir verfolgen, auch wenn diese auf dem ersten Blick pervers klingt. Es ist die nahezu utopische Hoffnung, dass uns die Technik Zeit schenkt, Zeit für die Patienten. Daran müssen wir arbeiten. Die Dystopie wäre nämlich, dass wir AI nutzen, um den Standard von jetzt zu bewahren und mehr Patienten mit weniger Personal behandeln können.

„Wir müssen die auszubildenden Ärztinnen und Ärzte neugierig machen, begeistern.“

Health Relations: Dazu braucht es Ärztinnen und Ärzte, die diese dynamischen Prozesse und ihre These verstehen. Die Lust haben, sich mit Digitalkompetenzen im Studium auseinanderzusetzen. Wie reagieren Ihre Schüler auf Ihre Ausführungen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Super. Klingt nach Marketingsprech, ich weiß, aber es ist tatsächlich so. Wir haben vor sechs Semestern den Digital-Medicine-Kurs gestartet mit dem Thema „How will data change the way we treat.“ Alle Studiengänge, die wir haben, konnten und können mitmachen. Wir haben den Kurs auch im virtuellen Klassenraum gestreamt, damit wirklich alle mitmachen können. Im ersten Semester waren 15 Studierende dabei, im letzten Semester 365. Die Nachfrage wird immer größer, der Kurs selber hat sich in seiner Struktur geändert und sich zur Ringvorlesung entwickelt, mit Vorträgen von Start-ups, Stakeholdern oder Patienten. Die Lust von Studierenden auf dieses Thema ist unheimlich groß. Um das weiter zu unterfüttern, besuchen wir auch Unternehmen wie Bayer oder Google, um zu sehen, wie diese digitalisieren. Dieser offene Umgang mit dem Thema nimmt die Angst, sich mit ihm zu beschäftigen.

Health Relations: Welche Didaktikanreize schaffen Sie noch?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Wir müssen die auszubildenden Ärztinnen und Ärzte neugierig machen, begeistern. Wir bieten ihnen viele Perspektiven und lassen sie Digitalisierung erleben. Hauptlernziel ist das Bewusstsein für die Vielfalt, und damit die Neugierde und den Spaß an diesen Inhalten zu schaffen. Wir zeigen anhand von Beispielen, was im Bereich von digitalen Anwendungen bereits alles möglich ist. Ein Beispiel: In Israel können Schwangere die Herztöne des Ungeborene durch eine Art mobilen Ultraschall kontrollieren, mithilfe eines Tools, das sie an ihr Handy anschließen können. Solche Beispiele aus der Praxis sorgen natürlich für Staunen. Der nächste didaktische Schritt ist es dann, den Studierenden die Kompetenzen in kleinen Kreisen zu lehren.

Health Relations: Im geschützten Bereich der Universität kann ich mir das sehr gut vorstellen. Aber was, wenn die jungen Mediziner in die Realität vorstoßen und den Alltag in deutschen Kliniken erleben. Geht dann die von Ihnen beschriebene Motivation nicht flöten?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Der Übergang aus den sehr sicheren ersten vier Semestern in die klinischen Semester steigert den Stress, das stellen wir sicherlich fest. Die Studenten gehen in kleinen Gruppen zu unterschiedlichen Trägern, je nach Krankenhaus, ist die Realität unterschiedlich hart. Dennoch hoffen wir, dass sie die Innovationsfreude, die sie mitbringen, in das System übertragen und dieses gestalten.

Health Relations: Wie steht es denn mit den älteren Kollegen? Auch diese können ja noch dazu lernen. Wie kann man diese zu Gestaltern werden lassen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Ganz ähnlich: Durch Staunen. Wir laden die bereits länger praktizierenden Ärztinnen und Ärzte in bestimmte Vorlesungen ein, zum Beispiel zu „Der digitale Patient„, eine Initiative der Bertelsmann Stiftung. Im Schnitt haben wir dort 350 bis 400 Teilnehmende. Da ist aber noch Luft nach oben.

Health Relations: Und alleine mit dem Mittel des Staunens motivieren Sie ältere Mediziner, sich mit der Digitalisierung zu beschäftigen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Ein bisschen müssen wir sie auch vor den Kopf stoßen und ihnen klar machen: „Mensch Leute, wir haben hier ein Problem. Wir haben lange nicht hingeguckt.“ Wenn Sie Fachärztinnen und -Ärzte fragen, welche Fachrichtung als erstes komplett von digitalen Tools ersetzt wird, zeigt jeder auf den anderen. Was zeigt uns das? Dass jeder Arzt und jede Ärztin und jede Fachrichtung sich in diesem System neu verorten und für sich definieren muss, wie wir die Digitalisierung so einsetzen, dass sie uns unterstützt und nicht ersetzt. Wir müssen sehen, wie wir diese Themen an Krankenhäusern thematisieren und dort Fortbildungen machen. Auch dort müssen wir alle Abteilungen ins Boot holen, damit alle voneinander lernen. Denn das Thema ist übergreifend: Die kaufmännische Leitung braucht dieselben Kompetenzen wie die ärztliche Leitung. Wenn alle Beteiligten das realisieren, eröffnet das Chancen und Möglichkeiten, miteinander zu gestalten und zu lernen.

Health Relations: Von dem Thema Digitalisierung sind, wie Sie bereits andeuteten, alle Branchen betroffen. Alle haben die selbe Bombe in ihrem System, nur die Gesundheitsbranche hat den Vorteil, dass die Lunte hier länger ist, weil der Markt so restriktiv reguliert ist. Wie viel Zeit haben wir, um junge und ältere Ärzte auf den Change vorzubereiten. Und zu Game-Changern zu machen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Ich glaube, die Lunte ist nicht mehr so lang, wie wir immer tun. Die brennt schon recht lang. Wir sehen in vielen Bereichen, dass das Geschäft schon von Digitalunternehmen selber gemacht wird. Amazon verkauft jetzt OTC-Präparate aus Eigenproduktion. Apple, Facebook, Amazon haben eigene Krankenhäuser und Krankenversicherungen. Natürlich werden die damit auch zu uns nach Deutschland kommen und den Markt für sich sichern wollen. Die Lunte ist schon verdammt nah an der Bombe.

„Was wir versuchen, zu verdeutlichen, ist, dass es um Emotionen und Vorbildfunktionen geht.“

Health Relations: Wir brauchen also zeitnah viele Leute, die in die Krankenhäuser kommen und Innovationen schaffen?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Genau. Aber es gibt bereits tolle Projekte: Die Charité arbeitet mit dem Hasso-Plattner-Institut zusammen, das Klinikum Duisburg-Essen macht den nächsten großen KI-Versuch, Dr.med. Sebastian Kuhn an der Universitätsmedizin Mainz macht viele Digitalisierungsprojekte. Hier wird viel passieren in nächster Zeit. Aber es droht der nächste Schritt: Wir müssen nicht nur alle Gesundheitsberufe, wir müssen die gesamte Gesellschaft mitnehmen. Wir dürfen die Gesellschaft nicht spalten in jene, die digitale Kompetenzen haben und jene, denen diese fehlen. Und die dann noch mehr abgehängt werden.

Health Relations: Es muss immer erst was passieren, bis sich was ändert. Es braucht einen Pain Point. Was halten Sie von dieser These?

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Ich hoffe das nicht; es liegt in unserer Verantwortung, dass wir das verhindern und allen Beteiligten erklären, an welchem Punkt wir hier stehen. Wo genau unsere medizinische Aufgabe in der Zukunft liegen wird. Nämlich auch in der digitalen Beratung unserer Patienten, zum Beispiel, indem wir ihnen die geeignete App für eine Therapie-Begleitung empfehlen.

Health Relations: Dafür braucht es Rolemodels und Erfolgsgeschichten. Und Freiheiten, die man Ärzten geben muss, um sie im Krankenhaus zu halten.

Prof. Dr. Jan P. Ehlers: Genau. Didaktik hat mit Emotionen zu tun. Klar vermitteln wir Methoden, aber was wir viel mehr versuchen, ist, zu verdeutlichen, dass es um Emotionen und Vorbildfunktionen geht. Wenn du als Arzt mit deinem Fach mehr Zeit verbringst als mit deiner Familie, dann muss da etwas Tieferes sein, was dich fasziniert. Das musst du füttern und behalten. Ich höre so oft den Satz: „So ist das System.“ Wir wollen klar machen: Du bist das System. Das vergessen wir allzu oft. Wenn wir Angst haben, dass es schlecht läuft, müssen wir dafür sorgen, dass es gut läuft. Und genau diese Erkenntnis ist es, die Ärzte heute in sich tragen sollten.


Zur Person: Prof. Dr. Jan P. Ehlers hat den Lehrstuhl für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke (UW/H) inne und ist zurzeit außerdem Vizepräsident der UW/H. Als Academic Senior Advisor ist er mit dem Institute for Digital Transformation in Healthcare verbunden. Außerdem ist er auf dem Blog Der digitale Patient der Bertelsmann Stiftung aktiv und wirkt als Gast regelmäßig im Podcast Zweikörperproblem mit.

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