Gloria Seibert, Temedica: „Alles eine Frage des Framings“

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Gloria Seibert über Datengetriebene Technologien wie KI und ML für Pharma
Gloria Seibert ist Founder & CEO bei und von Temedica. Innovation ist in ihren Augen nicht nur die digitale Anwendung selber, sondern die Entwicklung eines digitalen Ökosystems.© Temedica
Gloria Seibert, Gründerin und CEO von Temedica, berichtet im Interview, wie man unter anderem Patient:innen davon überzeugt, Gesundheitsdaten für die Entwicklung neuer Produkte zur Verfügung zu stellen.

Was das Münchner Health-Insights-Unternehmen Temedica macht, könnte man als digitale Datenerhebung bezeichnen. Das Unternehmen entwickelt digitale Apps für komplexe, chronische Erkrankungen. Darüber hinaus führt die Firma mit ihrer Marke „Permea“ ein Portfolio an Produkten, welches komplexe Gesundheitsdaten für diverse Akteure des Gesundheitssystems übersetzt und nutzbar macht. Zugrunde liegt hier die Permea-Analyseplattform, die mithilfe neuster Technologie und künstlicher Intelligenz unterschiedliche Real-World-Daten miteinander verarbeitet, um wichtige Fragestellungen u.a. der Pharmaindustrie beantworten zu können.

Health Relations: Warum ist es für die Gesundheitswirtschaft so wichtig, Daten zu bekommen und was hat das mit dem Pharmamarketing zu tun?

Gloria Seibert: Temedica will für ein umfassendes Verständnis der Versorgungsrealität in der gesamten Therapielandschaft sorgen. Dieses umfassende Bild bekommt man vor allem aus der Kombination unterschiedlicher Informationsquellen. Aus meiner Sicht gibt es derzeit keine Anbieter, die diesen 360-Grad-Blick generieren. Auch für den Bereich Pharmamarketing und Sales wird es immer relevanter, diese Puzzlestücke so zu kombinieren, dass ein umfassendes Bild entsteht.

Health Relations: Natürlich sind Daten, die das Marketing direkt betreffen, interessant. Welche weiteren Daten sind für Pharmaunternehmen wichtig?

Gloria Seibert: Das sind kommerzielle Daten, aber auch Informationen, die Fragen beantworten wie: Wie kommen Therapien bei Patient:innen an? Welche Art Therapie machen sie? Warum wird eine Therapie abgebrochen? Was ist die Diagnose, die hinter einer Therapie steckt? Dafür braucht es eine Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven.

Health Relations: Warum spielen auch diese Informationen eine Rolle?

Gloria Seibert: Es ist wichtig, dass jede:r, der oder die im Gesundheitswesen aktiv ist und etwas anbietet – egal ob es sich um einen Arzt, ein Pharmaunternehmen oder ein Krankenhaus handelt – sich mit den spezifischen Bedürfnissen seiner Zielgruppe auseinandersetzt. Ein Pharmaunternehmen, das beispielsweise ein lückenhaftes Verständnis von der Versorgungsrealität oder einzelner Patientenpfade hat, wird sich vermutlich in der Kommunikation in Richtung HCPs schwer tun. Uns stärker damit zu beschäftigen, betrifft uns alle im Gesundheitsmarkt und erfordert einen Wandel des Mindsets. Viele Firmen haben früher im stillen Kämmerchen entwickelt. Das ist vorbei. Agiles, iteratives Arbeiten und Erproben wird immer wichtiger, wenn man Produkte nah am Markt entwickeln will.

Health Relations: Wie erhält Temedica die dafür notwendigen Daten?

Gloria Seibert: Wir haben ein Ökosystem aufgebaut. Dabei ist unser Ziel, jedem Stakeholder im Gesundheitssystem Zugriff auf generiertes Wissen zu geben. Das Wissen wird generiert, indem wir unterschiedliche Daten- und Informationsquellen miteinander verbinden. Dafür fußt unserer Temedica-Ökosystem auf einer Art Tauschgeschäft. Das heißt: Jeder, der von uns generiertes Wissen herausnehmen will, muss auch etwas einbringen. Auf diese Weise kommen wir an sehr viele unterschiedliche Informationen.

Health Relations: Können Sie ein Beispiel nennen?

Gloria Seibert: Wenn Patientinnen und Patienten unsere Apps nutzen, werden sie explizit gefragt, ob sie bereit sind, ihre Daten in anonymisierter und aggregierter Form mit uns zu teilen. Sind sie einverstanden, stellen wir ihnen im Gegenzug Erkenntnisse aus unserer Permea-Plattform zur Verfügung. Aktuell erreichen wir damit Zustimmungsquoten zwischen 70 und 80 % aufseiten der Patient:innen – das ist eine extrem hohe Zahl.

Health Relations: Was könnte sich mit effektiveren Daten an der Marketingstrategie ändern?

Gloria Seibert: Sie wird zielgerichteter werden. Gerade in Bezug auf Targeting und die Relevanz von Inhalten. Unabhängig, ob sich die Kommunikation an HCPs oder Patient:innen richtet, ist sie effektiver, je besser sie auf eine Zielgruppe zugeschnitten ist. Dafür brauche ich das bestmögliche Verständnis meiner Zielgruppe. Zu diesem Zweck müssen unterschiedliche Informationen miteinander verknüpft werden.

„Es kommt darauf an, in welchem Kontext gefragt wird.“

Health Relations: Sind dafür die einzelnen Akteure schon offen? Bisher zeigt es sich oft so, dass viele ihre Informationen nur ungern herausgeben,

Gloria Seibert: Es kommt darauf an, in welchem Kontext gefragt wird. Wenn ich nach vertraulichen oder personenbezogenen Informationen frage, wird das berechtigterweise niemand beantworten wollen. Und solche Fragen würden wir auch niemals stellen. Baue ich aber ein Produkt, das den Angefragten das Leben erleichtert, sind sie offener. Wir haben dank unseres Ökosystem-Ansatzes sehr viele Partner – Ärzte und Patient:innen – die wir jederzeit anfragen können, weil sie wissen, dass sie am Ende selbst davon profitieren.

Health Relations: Patient:innen zu fragen, ob sie bestimmte Informationen für das Marketing herausgeben, ist dann wohl nicht die richtige Strategie.

Gloria Seibert: Richtig, aber wenn man fragt: An welcher Stelle würdest du dir relevante Informationen wünschen, damit du zum Beispiel deine Therapie fortsetzt oder deinen Alltag mit deiner Erkrankung besser managen kannst, wird der Patient oder die Patientin diese Informationen sehr wahrscheinlich geben. Es geht also ganz viel um Framing und In-Kontext-Setzen.

Health Relations: Nun sind wir ja in Deutschland, und dann kommt auch immer wieder der Datenschutz auf den Tisch. Wie gehen Sie damit um?

Gloria Seibert: Alles, was wir und unsere Partner tun, ist konform mit der Datenschutzgrundverordnung. Wir arbeiten ausschließlich mit anonymisierten und aggregierten Daten und kommunizieren das aktiv. Auch an dieser Stelle braucht es eine umfassende Aufklärung. Und wenn man das gut macht, funktioniert es auch. Das Bewusstsein für den Nutzen von Gesundheitsdaten wächst.

„Das Unverständnis in der Bevölkerung darüber wächst, dass wir immer noch Silos haben.“

Health Relations: Ist es auch eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, dass das Bewusstsein für den Nutzen von Gesundheitsdaten für die Verbesserung der Versorgung wächst?

Gloria Seibert: Ja, ich habe den Eindruck, die Diskussion ist mehr in der Gesellschaft angekommen. Als wir 2016 angefangen haben, wurde man für solche Überlegungen noch streng beäugt. Mittlerweile ist es sogar so, dass das Unverständnis in der Bevölkerung darüber wächst, dass wir immer noch Silos haben. Ich glaube, dass auch Menschen, die nicht im Gesundheitswesen arbeiten, verstehen, dass es nicht klug ist, in einer evidenzgetriebenen Industrie wie der Medizin, mit Informationen hinterm Berg zu halten. Besonders bei den seltenen oder schweren chronischen Erkrankungen können Leben gerettet werden. Andere Länder sind hier viel weiter, beispielsweise wurden rund um den Corona-Impfstoff immer wieder Erfahrungswerte aus Israel herangezogen, weil dort eben verlässliche Daten verfügbar waren. Hier müssen wir aufholen, und zwar sofort!

Health Relations: Wie sollten wir es denn besser gestalten? Sind die USA ein gutes Vorbild?

Gloria Seibert: In den USA ist die Datenerhebung einfacher, weil die Regulatorik nicht so streng ist. Das führt einerseits dazu, dass dort heute Praxisbeispiele entwickelt und etabliert werden, die im Healthcare-Bereich viele Möglichkeiten eröffnen. Andererseits finden sich in den USA auch Beispiele mit grenzwertigem bis hin zum missbräuchlichen Verhalten. Das darf nicht passieren. Wir müssen für uns in Europa und Deutschland differenzieren und eine Abwägung treffen, an welchen Stellen es sinnvoll ist, etwas liberaler zu werden und gleichzeitig das tatsächliche Risiko im Auge behalten.

Health Relations: Und wie spielt künstliche Intelligenz da rein?

Gloria Seibert: Je mehr Informationen die KI hat, desto besser kann sie trainiert werden. Das ist natürlich auch ein großes Thema in Europa. Genau vor diesem Hintergrund ist es wichtig für uns, als europäische Gesellschaft zu entscheiden, was wir wollen, wo wir das größte Potenzial sehen, das einmal abstecken und schlussendlich dann auch durchziehen – ohne den Datenschutz als Totschlagargument zu verwenden, um Dinge zu verhindern.

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