„Das Influencer-Marketing wird auf Twitch eine immer größere Rolle spielen“

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Andreas Kotte von MW Office über Pharmamarketing auf Twitch und Gamification
Andreas Kotte ist Director Digital Consulting bei MW Office Gesellschaft für Marketing und Werbung mbH in Frankfurt am Main. © MW Office
Gamification ist im Pharmamarketing angekommen, der Umgang mit Plattformen wie Twitch aber noch zaghaft. Dabei hat der Social-Media-Kanal durchaus Potenzial. Ein Experteninterview.

Novartis übernimmt das US Start-up Amblyotech und steigt damit ins Videogame-Business für an Amblyopie erkrankte Patienten ein. Sanofi lässt den Dentocopter los, LEO Pharma macht Dermatologen zu Detektiven, Pfizer Deutschland setzt auf Health Games als Wissensvermittler und spricht kleine Patienten mit der App HemoHeroes an. Games sind in der Arzt- und Patientenkommunikation angekommen. Aber was ist mit Plattformen wie Twitch? Wir haben Andreas Kotte, Director Digital Consulting bei MW Office Gesellschaft für Marketing und Werbung mbH in Frankfurt am Main, über Gamification, Serious Games und Streamingportale im Pharmamarketing gesprochen.

Health  Relations: Es scheint, als seien Games in der Wissensvermittlung angekommen. Ich habe aber das Gefühl, dass Pharma sich hier vor allem auf die Patienten konzentriert. Wie sehen Sie das: Sind Games auch für Ärztekommunikation geeignet?

Andreas Kotte: Ihr Gefühl täuscht Sie nicht, Pharma konzentriert sich aktuell in diesem Bereich noch auf die Patientenkommunikation, startet aber die ersten Experimente mit Gamification in der Arztkommunikation und lernt aus den ersten Umsetzungen. Nicht jeder Arzt wird sich von dieser Form der spielerischen Fortbildungen angesprochen fühlen, aber es könnte durchaus eine Möglichkeit sein, einen Teil der Ärzte über einen neuen Zugang zu erreichen.

„In den nächsten Jahren wird sich das Mediennutzungsverhalten der Ärzte weiter digitalisieren und teilweise grundlegend verändern.“

Health  Relations: Können Sie uns weitere erfolgreiche Beispiele für sogenannte Serious Games nennen?

Andreas Kotte: Ein weiteres erfolgreiches Health Game ist zum Beispiel das Spiel Snow World, dass erfolgreich zur Schmerztherapie bei schweren Verbrennungen eingesetzt wird. Oder das Spiel Underground, das die motorischen Fähigkeiten von Chirurgen trainiert, die in der Laparoskopie tätig sind.

Health  Relations: Das Beispiel „Underground“ legt nahe, dass Serious Games vor allem in der Facharztkommunikation funktionieren, oder?

Andreas Kotte: Richtig. Sie sehen, die erfolgreichen Games sind immer sehr speziell zugeschnittene Ansätze, die sich auch zukünftig an die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Facharztgruppen richten müssen. Der Arzt muss auf den ersten Blick einen Mehrwert für sich erkennen.

„Gerade mit den Weiterentwicklungen von VR und AR können Serious Games zukünftig ein Baustein in der Arztkommunikation der Pharmaunternehmen und im Wissenstransfer an Ärzte sein.“

Health  Relations: Ärzte gelten nicht immer als digital affin …

Andreas Kotte: Die aktuelle digitale Müdigkeit einzelner Facharztgruppen ist zum größten Teil noch ihrer Altersstruktur geschuldet, beispielsweise liegt bei den Hausärzten der Anteil der über 60-Jährigen bei 35,1 %. In den nächsten Jahren wird sich das Mediennutzungsverhalten der Ärzte weiter digitalisieren und teilweise grundlegend verändern. Covid-19 hat uns hier schon in Teilen gezeigt, wo die Reise hingehen wird und den Ärzte-Communitys und -Plattformen enorme Zuwächse bei den Page Views beschert. Auch nächstes Jahr werden wahrscheinlich kaum Präsenzveranstaltungen/Kongresse wie gewohnt stattfinden und durch diesen Umstand werden die Ärzte „zwangs-digitalisiert“, um beruflich weiter auf dem aktuellsten Wissensstand zu bleiben. Gerade mit den Weiterentwicklungen von VR und AR können Serious Games zukünftig ein Baustein in der Arztkommunikation der Pharmaunternehmen und im Wissenstransfer an Ärzte sein und dies nicht nur im Studium.

Health  Relations: Bisher sprachen wir über Games via App oder Browser. Nun ist das Streamen von Games via Twitch sehr angesagt bei Usern. Wie interessant ist dieses Tool für die Pharmabranche, zum Beispiel für Branded-Content-Kampagnen im Bereich Awareness für seltene Indikationen?

Andreas Kotte: Die Pharmabranche agiert gewohnt vorsichtig mit „neuen“ Social-Media-Plattformen, aber einzelne mutige Unternehmen starten die ersten Piloten mit Twitch und zeigen Interesse an diesem Tool.

Health  Relations: Ist Ihnen hier ein Beispiel bekannt?

Andreas Kotte: Merck und Twitch kooperierten zum Welt MS Tag, konnten so bei über 1,2 Mio. Unique Viewers auf Thema MS aufmerksam machen und MS Betroffene miteinander vernetzen.

„Die Zielgruppe auf Twitch ist jung, extrem digital-affin, besonders interaktiv und besitzt eine hohe Kaufkraft.“

Health  Relations: Für welche Cases könnte Twitch noch spannend sein?

Andreas Kotte: Neben dem Streamen von Games sind die sogenannten IRL-Channels extrem beliebt  („in real life“. Hier können die Zuschauer ihre favorisierten Streamer in ihrem Alltag begleiten, Anm. der Red.). Hier könnte ein spannender Case sein, dass Menschen aus ihrem Alltag und Ihrem Umgang mit einer seltenen Erkrankung berichten. Und Pharma ein solches Format nutzt, um nachhaltig über diese Krankheiten aufzuklären und sich dadurch als starker Partner in diesen Indikationen positioniert. Das wäre dann nicht nur für direkt betroffene, sondern auch Familienmitglieder, Freunde oder Arbeitskollegen interessant. Denn das ganze Umfeld ist von einer solchen Diagnose betroffen, oft auch überfordert und dankbar für jede Information und Tipps im Umgang mit einer solchen seltenen Erkrankung.

Health  Relations: Die Zielgruppe auf diesem Kanal ist aber sicherlich sehr jung, oder?

Andreas Kotte: Das stimmt, die Zielgruppe startet mit 13 Jahren sehr jung, aber Twitch genießt auch bis hin zu den Mitte 30-Jährigen eine hohe Popularität. Laut Twitch handelt es sich in der Regel um 18- bis 34-Jährige und hier dominieren aktuell die Männer, aber die Zuschauerinnen holen auf und liegen in Deutschland mittlerweile bei 30 %. Die Zielgruppe auf Twitch ist jung, extrem digital-affin, besonders interaktiv und besitzt eine hohe Kaufkraft.

„Die Loyalität und Zusammengehörigkeit zwischen Streamer und Viewer bietet einen extremen Mehrwert.“

Health  Relations: Zusammengefasst: Wo liegen Ihrer Meinung nach der Mehrwert, wo die Nachteile der Plattform Twitch?

Andreas Kotte: Eine jüngere Zielgruppe ist durch die klassischen Werbekanäle kaum noch zu erreichen und hier kommt Twitch ins Spiel, denn auf der Streaming-Plattform verbringen sie regelmäßig mehr als 90 Minuten pro Tag. Und gerade das Influencer-Marketing wird zukünftig auf Twitch eine immer größere Rolle spielen, denn die Streamer haben ihre Communitys mit viel Herzblut aufgebaut und genau durch diese Loyalität und Zusammengehörigkeit zwischen Streamer und Viewer bietet einen extremen Mehrwert. Twitch Viewer haben keine negative Einstellung gegenüber Werbung und vertrauen dem Streamer und seiner Meinung. Die Live-Übertragungen, die schnellen Interaktionen und das hohe Engagement der Twitch-Community zeichnet das Streaming-Portal aus, sind aber zugleich auch Faktoren, die für Unternehmen und ihr Image risikobehaftet und ein Stück weit unberechenbar sind.


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